Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
Vom Netzwerk:
Reifekeller verbrachten und mit ihren Käsen sprachen. Das war Romantik. Sie waren Geschäftsleute, ja, sogar Medienstars. Und in Frankreich gab es kaum einen bedeutenderen als Hervé Picard.
    Nachdem der Professor einige Zeit mit großen Augen vor der Schaufensterauslage gestanden hatte, trat Hervé Picard zu ihm hinaus.
    »Sie dürfen ruhig hereinkommen, bei mir ist es auch kühler als hier draußen.« Er trug einen braunen Kittel mit dem Wappen der Familie – und seine berühmten roten Schuhe.
    Bietigheim folgte der Einladung umgehend. Hinein ins Paradies der weiterverarbeiteten Milchprodukte. Er wusste vor lauter Pracht gar nicht, wohin er blicken sollte. Von duftigen, weichen Weißschimmelkäsen wie Camembert und Brie über die äußerst aromatischen Rotschmierkäse bis hin zu den Blauschimmelkäsen – den Bleus – und den Ziegenkäsen – den Chèvres – fand sich alles, was das Herz begehrte. Auch Konfitüren, Senf, Honig und Weine, welche die angebotenen Käse ideal ergänzten, konnte man hier in höchster Qualität erwerben. Besonders faszinierte Bietigheim ein Vacherin du Haut-Doubs, der so reif und flüssig war, dass ein Marmorkeil ihn am Fortlaufen hindern musste.
    Nur ein berühmter Käse fehlte.
    Der von Madame Poincaré.
    »Darf ich Ihnen vielleicht etwas empfehlen?«, fragte Hervé Picard.
    Bietigheim räusperte sich und überlegte, wie er anfangen sollte. Doch benebelt vom Käseduft, wollte ihm keine Idee kommen.
    »Sie wissen, dass Sie sich in einem Käsegeschäft befinden, oder?« Hervé Picard lächelte.
    Erst jetzt ging dem Professor auf, dass er durch sein langes Schweigen wohl einen leicht debilen Eindruck machte. Das galt es zu ändern!
    »Ich würde gerne etwas Käse mitnehmen. Vielleicht ein Stück Grand Vatel? Ich schätze diesen Artisanal-Käse mit seinem fast butterartigen Geschmack. Sein 75-prozentiger Fettanteil dank der mit Rahm angereicherten Milch schreckt mich ü-ber-haupt nicht. Einfach göttlich! Oder soll es eher ein seltener Fermier Brebis für mich sein? Fantastisch sieht auch der Banon aus. Ich liebe es, wie dieser kleine Bergkäse in Branntwein getaucht und in ein Kastanienblatt gewickelt wird.«
    »Sie kennen sich aber sehr gut aus, Monsieur. Ich bin beeindruckt.« Hervé Picards Gesicht sagte etwas ganz anderes: Was bist du nur für ein elender Besserwisser. »Jemand wie Sie weiß sicher auch, woher das Wort fromage stammt?«
    Er wollte ihn also vorführen. Na, der würde sich wundern!
    »In Homers Odyssee lesen wir, wie Odysseus und seine Mannen sich in der Höhle des einäugigen Zyklopen Polyphem verstecken. Dort melken sie Schafe und Ziegen, lassen die Milch gerinnen und stellen sie in Weidenkörben beiseite. Daher stammt auch das Wort fromage , vom griechischen formos , dem Weidenkorb des Zyklopen.«
    Hervé Picard rückte einen Stuhl für Bietigheim vor. »Wollen wir uns nicht setzen?«
    Schade, dachte der Professor. Gern hätte er noch zum Besten gegeben, dass die ersten echten Beweise für die Existenz von Käse sich in sumerischen Schriften um 3000 vor Christus fanden und schon die Kelten in Frankreich ausgeprägte Käsetechniken entwickelt hatten. Na ja, vielleicht ergab sich später noch die Gelegenheit. Erst einmal klärte er Hervé Picard auf, mit wem er es zu tun hatte. Bietigheim genoss das anerkennende Nicken des nun lächelnden Affineurs. Dieser war wie ausgewechselt, mit einem Mal die Freundlichkeit in Person.
    »Und Sie sind extra zu mir gereist? Dann wollen Sie sicher meinen Reifekeller sehen.«
    Das Allerheiligste?
    »Merci, Monsieur Picard. Merci infiniment! Merci!«
    Bei Franzosen musste man immer dick auftragen mit dem Dank, so dick wie seine Großmutter die Butter aufs Brot geschmiert hatte.
    »De rien, Monsieur Bietigheim, c'est avec plaisir.«
    Schweigend folgte er dem Affineur die steinernen Stufen hinunter in den alten Kreuzgewölbekeller, der sich weit in die Unterwelt Dijons erstreckte. Das Thermometer am Eingang zeigte kühle acht Grad. Auf langen Tischen und in Holzregalen lagen die gelben Schätze. Hervé Picard griff sich eine Art kleinen Hammer, mit dem er auf einen der großen Beaufort-Laibe schlug, einen Bergkäse aus Savoyen, der daraufhin einen Reife versprechenden Ton von sich gab. Dann drehte er das Hämmerchen und fuhr mit dem hohlen Stil in den Käse hinein. Eine Probebohrung. Nach mehrmaligem Drehen zog er ihn wieder heraus und prüfte Konsistenz sowie Farbe, bevor er Bietigheim ein Stück anbot.
    »Und?«, fragte Hervé

Weitere Kostenlose Bücher