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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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verstanden hatte, was diese beiden harmlosen, mit Schwung gezeichneten Kreise über seine Anverwandte aussagten.

KAPITEL 4
Für ein Glas voll Crème de Cassis
    Es war die größte Beerdigung im »engsten Familienkreis«, die der Professor je gesehen hatte. Denn der engste Familienkreis bestand offensichtlich aus sämtlichen Bewohnern der Côte d'Or.
    Bietigheim konnte Beerdigungen nicht leiden – vor allem seine eigene versuchte er tunlichst zu vermeiden. Doch um diese hier kam er nicht herum, denn die Käserei von Monsieur Vesnin rückte mit voller Mannschaft an. Dem Professor passte das ausnahmsweise sehr gut in den Kram. Zum einen wollte er Madame Poincaré seinen Respekt zollen, zum anderen interessierte es ihn zu hören, was die Menschen über diese große Käserin zu sagen hatten. Die Physik ging davon aus, dass sich nichts so schnell wie Licht bewegte.
    Sie irrte.
    Gerüchte waren schneller.
    Der Bürgermeister mochte zwar den Deckel über den Mord halten, doch der Dampf quoll längst empor. Die Bewohner Epoigeys wussten, dass etwas nicht stimmte, und ein Großteil schien mit der Hoffnung gekommen zu sein, hier und heute die Wahrheit zu erfahren. Immerhin würde der Erzbischof von Clermont, Pierre Roux, höchstpersönlich die Zeremonie durchführen. Auf dem Weg zur Grabstelle schwoll das Flüstern immer weiter an.
    Der Professor nahm die Trauergäste in Augenschein.
    Nah am Grab, neben dem Bürgermeister, dort wo traditionell die engsten Angehörigen standen, fand sich nur Benoit. Etwas weiter entfernt und aus Respekt in Arbeitsmontur: die berühmtesten Käsemacher Frankreichs, Égly Ouriet aus Savoyen, Jacques Feuillate aus Izeste, der junge Davide Aleppo aus Korsika und sogar François de Boisy aus Hoch-Savoyen, der legendäre Schöpfer des besten aller Reblochon-Käse. Seit sechzehn Jahren hatte den Mann niemand mehr zu Gesicht bekommen. Verbittert hatte er seine Käserei aufgegeben, nachdem seine Schafsherde gestohlen worden war. Sie waren wie Kinder für ihn gewesen.
    Es waren sogar Käser aus anderen Ländern anwesend. Holländer, wie Johann Cornelis, der Magier des Goudas, Schweizer wie Roland Raufli, in dessen Emmentaler mehr Geschmack als Löcher steckten, Justin Hengst, der Käser des in der größten deutschen Tropfsteinhöhle gereiften Atta-Käses, und sogar ein Brite, Wallace Park aus Gloucestershire, der Erfinder des Stinking Bishop. Europas Käse-Adel.
    Wie gerne hätte Bietigheim sie alle auf der Stelle in ein Fachgespräch verwickelt, über die richtige Milch, die Geheimnisse der Reifung und – selbstverständlich – die soziokulturelle Bedeutung von Rotschmierkäse.
    Auch einige Affineure waren zugegen, nicht jedoch Hervé Picard. Es gab immer noch kein Lebenszeichen von ihm, der Professor hatte vor der Beerdigung in seinem Geschäft nachgefragt.
    Jetzt baute sich der Erzbischof am Grab auf. Er war bedeutend jünger als Bietigheim erwartet hatte, seine Haare verfügten sogar noch über einen Rest Farbe, und er trug keine Brille. Der Robenträger war sicher noch keine sechzig Jahre alt, in klerikalen Maßstäben also ein junges Bürschlein. Das Getuschel über den Grund seiner Anwesenheit schwoll an. Manche vermuteten, dass es an Madame Poincarés Lebensstil lag, welcher wie der einer Heiligen gewesen sei. Andere, dass der Erzbischof einfach ausnehmend gerne ihren Käse gegessen hatte.
    Die Ansprache des Kirchenmannes war so lang und langweilig wie befürchtet, und natürlich ging er mit keinem Wort auf die wirkliche Todesursache ein, sprach nur von der Liebenswürdigkeit der Toten, ihrer gütigen Art – dabei war sie ein harter, alter Knochen gewesen. Aber so etwas sagte man natürlich nicht laut.
    Bietigheim nutzte die Zeit, um die Trauernden genau zu beobachten. Weilte der Mörder vielleicht unter ihnen? Stand in irgendein Gesicht unterdrückter Triumph geschrieben?
    Nein, in keinem.
    Und doch sah Bietigheim an diesem Morgen etwas, das ihn nicht mehr losließ. Vielleicht, weil er nicht gleich einordnen konnte, was es zu bedeuten hatte. Nun machte es sich bezahlt, dass er einen Platz auf einem leicht ansteigenden Rasenstück gewählt hatte. So konnte er beobachten, wie am Grab Abschied genommen wurde und ob Erde oder Blumen auf dem bereits heruntergelassenen Sarg landeten.
    Ein Mann warf noch etwas anderes auf das schwarz polierte Eichenholz, wobei er seine Hand bewusst so hielt, dass niemand es sah. Doch Bietigheims Blick war scharf wie der eines jungen Adlers, geschult durch

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