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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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jahrelanges Beobachten der Pfuschversuche seiner Studenten. Und so konnte er erkennen, wie etwas Blassgelbes zusammen mit viel Erde auf den Sarg klatschte.
    Fraglos ein Stück Käse aus Madame Poincarés Produktion.
    Professor Bietigheim kam eine Träne, denn dies war eine ganz wundervolle Geste. Sicher hätte sie es sich gewünscht, wie die Pharaonen mit ihren wertvollsten Besitztümern ins Jenseits einzugehen.
    Doch was, wenn es kein Stück ihres eigenen Käses war? Was, wenn es nur ein industrielles Massenprodukt war? Dann handelte es sich um einen Racheakt größtmöglicher Brutalität. Der Mann warf gleich noch eine Hand Erde hinterher, die den Käse vollends bedeckte, und blickte sich nervös um. Niemand außer Bietigheim schien seine Tat bemerkt zu haben. Ohne auch nur einem der Verwandten sein Beileid auszusprechen, entfernte er sich rasch vom Grab.
    Bietigheim kannte den Käsewerfer. Es handelte sich um Madame Poincarés Nachbarn, der ihn bei seinen Nachforschungen mit einer Heugabel bedroht hatte. Dem Getuschel der Trauerenden zufolge ein Cassis-Bauer. Der Professor hörte sich um, wie der Mann hieß. Gérard Brunot.
    Diesen Namen würde er sich gut merken.
    Nach der Zeremonie ging die Trauergesellschaft zum Leichenschmaus über. Obwohl Bietigheim die wunderbaren, vollreifen, um nicht zu sagen zum Himmel stinkenden Käse bereits erschnuppern konnte und sich seine Nüstern vor Freude weiteten wie die eines galoppierenden Araberhengstes, widerstand er der Versuchung mitzugehen, war ganz mens sana in corpore famelico. Ein gesunder Geist in einem hungrigen Körper. Denn der Professor hatte Wichtigeres zu tun.
    Der Lehrkörper der Hamburger Universität mochte eine verschworene Gemeinschaft sein, doch gegen Epoigey war er ein geradezu offenherziges Kaffeekränzchen. Es passierte kaum, dass die Bürger Blicke hinter die Fassade zuließen. Besonders nicht vom Professor, dem Fremden, dem Deutschen. Doch in jedem Dorf gab es eine geschwätzige Menschengattung. Nein, nicht die Friseure, die waren Meister der Kommunikation und wussten stets genau, wer was hören wollte – und durfte.
    Der Professor hatte jemand anderen im Visier: den Dorfpfarrer. Dieser hatte soeben Benoit als engsten Verwandten der Verstorbenen betreut. Predigen durfte er heute ja nicht. Wenn der Erzbischof spricht, muss das geweihte Fußvolk schweigen.
    Der Dorfgeistliche war eine sympathische Erscheinung. Die Nase rot, die Wangen rosig, wie ein großes, gerade gestilltes Baby. Die gesunde Gesichtsfarbe schien allerdings von der segensreichen Wirkung ausgiebigen Messweinkonsums herzurühren. Fraglos ein Gottesmann, zu dem die Landbevölkerung des Burgunds Vertrauen fassen konnte.
    Er würde wissen, ob hier regelmäßig Clochards durchzogen, denn Gotteshäuser waren für sie oftmals Horte der Einkehr.
    Bietigheim hatte den Pfarrer gerade in die Kirche Saint-Jean gehen sehen, in Begleitung einer Frau in Schwarz. Er rief Monsieur Vesnin kurz zu, dass er zum Leichenschmaus nachkomme, und ging schnellen Schrittes zum Gotteshaus. Es stammte aus dem 13. Jahrhundert, war jedoch noch ganz im Stil der Romanik erbaut. Eine dunkle Festung des Herrn, keine Preisung seiner Glorie. Sie schien menschenleer, doch aus dem Beichtstuhl erklangen Stimmen. Das heißt, eigentlich nur eine.
    Die der Frau. Sie weinte.
    Die Kirche hallte stark, und Bietigheim kam nicht umhin, zuzuhören. Aber da einiges nur schwer zu verstehen war, ging er ein paar Schritte näher. Und noch ein paar.
    »… was soll ich denn nur tun? Ich habe Schuld auf mich geladen. Und jetzt ist sie tot.«
    Bietigheim sog die Luft scharf ein. Eine schlechte Angewohnheit, das wusste er, aber er konnte nichts dagegen tun. Wenn ihn etwas sehr überraschte, passierte es einfach.
    Die Beichtende hatte es auch gehört.
    Jetzt stürmte sie an ihm vorbei, ohne den Professor auch nur eines Blickes zu würdigen, die Hände vor die tränenden Augen gehalten. Sie war noch jung, groß und schlank, brünettes Haar fiel ihr über die Schultern. Ihre Haut war braun gebrannt, doch von keiner Sonnenbank, sondern vom Original. Fraglos eine Schönheit.
    Der kugelige Kopf des Priesters lugte aus der Kabine hervor.
    »Wo ist sie hin?«
    Der Professor zeigte auf das Kirchenportal. »Ganz schnell raus.«
    »Sie ist unglaublich fix. Das war sie schon als Kind.«
    Der Priester schien keineswegs schockiert von dem, was ihm gerade anvertraut worden war. Dabei hatte es ganz klar nach einem Mordgeständnis geklungen.
    »Wie heißt

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