Die letzte Reifung
atmete aus. Das war ein Fehler. Überraschenderweise fielen keine Singvögel von den Ästen. Dabei konnte man diese Alkoholfahne vermutlich noch in der Polarstation Neumayer III riechen. Der Mann gehörte ins Bett, um seinen Rausch rückenschonend auszuschlafen. Mit großer Kraftanstrengung gelang es dem Professor, ihn emporzuwuchten. Dabei wurde der Priester wach, oder zumindest annähernd, und stützte sich auf Bietigheims Schulter. So schafften sie es bis zum Pfarrhaus.
Erfreulicherweise lag das Schlafzimmer ebenerdig.
Im selben Moment, in dem der Priester das Bettlaken berührte, schlief er wieder ein. Der Bursche musste sich jetzt ausschlafen, und wenn er aufwachte, ein Glas Wasser auf dem Nachttisch finden. Sowie eine Packung Kopfschmerztabletten. Ein Eimer neben dem Bett konnte ebenfalls nicht schaden.
Ein Glas fand der Professor schnell, und fix hatte er es mit Wasser aus dem Hahn gefüllt. Doch wo mochte der Pfaffe sein Tablettenschränkchen haben? Im Badezimmer fand es sich nicht. Traditioneller Aufbewahrungsort für Pillen aller Art war noch das Nachttischschränkchen. Oberste Schublade. Bietigheim prüfte es. Die Bibel. Das hätte man sich ja denken können. Zweite Schublade – Tabletten! Gegen Kopfschmerz, Magenprobleme und Mundgeruch. Da dachte jemand an seine Schäfchen in der ersten Reihe. Guter Priester. Der Professor holte die Aspirin-Packung hervor. Darunter lag ein Zettel, zerknittert, jedoch sorgsam gefaltet. Bietigheim hätte ihn sicher liegen lassen, denn das Schriftstück ging ihn nichts an.
Doch es roch nach Käse.
Also nichts, was man im Nachttischschränkchen eines Priesters erwartete. Kamille, Myrrhe, Minze, selbstverständlich. Aber ein Stück Papier mit Käsearoma?
Der Pfaffe drehte ihm den Rücken zu und schnarchte nun mit der Intensität eines Höhlenbärs.
Bietigheim dachte nach. Niemand würde merken, wenn er einen Blick auf den Zettel riskierte.
Einen ganz kurzen.
Aus dem Augenwinkel nur.
Das konnte keine Sünde sein.
Trotzdem hob der Professor den Zettel ganz leise heraus und faltete ihn mit äußerster Vorsicht auseinander.
Ganz oben stand »Vacherin d'Epoigey«. Die Handschrift war verschnörkelt, die Buchstaben sahen aus wie Blumen, die über das Blatt rankten.
Es folgte die genaue Rezeptur des Käses. Milchmenge, Reifung, Wendezeitpunkte, alles.
Der Professor war geschockt, dieses wertvolle Schriftstück beim Dorfpfarrer zu finden.
Doch ein Detail erschütterte ihn noch mehr.
Das zerknitterte Papier war gesprenkelt.
Von blutroten Flecken.
KAPITEL 9
Ein pyramidaler Käse
Der Professor war ein geduldiger Mensch. Er schaffte es zum Beispiel, stundenlang seine Studenten zu beobachten, wie Sie Ihre schriftliche Prüfung bewältigten – in die er mehr Fallen eingebaut hatte als der Architekt des Pharaos in die Große Pyramide von Gizeh.
Doch der ständig lauter schnarchende Priester ließ seinen Geduldsfaden reißen.
Bietigheim hatte eigentlich vorgehabt zu warten, bis dieser wieder halbwegs bei klarem Verstand war. Soweit das bei einem dermaßen versoffenen Pfaffen überhaupt möglich war. Doch das ständige Grunzen, die Atemaussetzer und die Geräusche, als leckte er gerade einen Schweinetrog aus, waren einfach zu viel. Bietigheim plante, in ein paar Stunden wiederzukommen. Der Priester würde ihm schon nicht weglaufen.
Bevor der Professor zurück nach Meursault fuhr, wollte er sich jedoch noch etwas im Haus des Verdächtigen umsehen. In aller Ruhe. Was für ein Luxus! Wobei der flache Kirchenanbau außer Schlafzimmer, Küche, einem winzigen Wohnzimmer und einem Bad nur noch ein Büro zu bieten hatte. Die Kirchenfürsten des Mittelalters hätten sich geweigert, so spärlich zu leben. Die meisten Zimmer waren schnell durchsucht, längere Zeit benötigte der Professor nur für das Büro. Es war karg eingerichtet, nicht einmal ein Computer stand dort, das Telefon hatte noch eine Wählscheibe, die Vorhänge waren grau, und auf dem abgewetzten Holzboden waren anhand dreier eingetretener Pfade die meistgelaufenen Wege deutlich erkennbar. Einer von der Tür zum Schreibtisch, einer zum Buchregal, und der dritte verlief zu einer Anrichte von der Größe eines Leopard-Panzers. Der Professor öffnete sie. Erste Schublade: Gebetbücher und Osterkerzen, zweite: Messgewänder, dritte: Gemeindeblätter. Bietigheim blätterte sie durch. Wallfahrten nach Lourdes, Pfarrfeste, Erst-Kommunionen, Chorproben, Käsetaufen (was immer das sein mochte), Spendensammlungen des Roten
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