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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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wenig wie bei einem Fisch im Aquarium. Man konnte ihn ebenso wenig streicheln, doch es war beruhigend zu sehen, wie er seine Runden zog. Pit blickte auf seine Armbanduhr. Kurz nach zwei, in einer guten halben Stunde würde Gérard sein Mittagsschläfchen beenden, die Gardinen zur Seite ziehen, in die Küche gehen, sich einen Kaffee aufbrühen und danach im Hausgarten werken, falls nichts Dringendes bei den Johannisbeersträuchern zu erledigen war.
    Nach kurzer Fahrt parkte Pit seine Emma im Schatten einer alten Kastanie genau gegenüber von Gérards Hof.
    Die Gardinen standen offen.
    War der alte Bauer etwa früher aufgestanden? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Pit lehnte sich nach vorn und blickte in die Küche. Keine leere Kaffeekanne auf dem Tisch, dabei ließ Gérard sie immer in der Spüle stehen, die benutzte Tasse daneben.
    Pit stieg aus dem Taxi, schloss es nicht einmal ab, denn er wollte nur rasch ans Fenster und ins Haus schauen. Gérard war nirgends zu sehen. In Pits Magen machte sich das unangenehme Gefühl breit, das er sonst nur bekam, wenn er vergaß, wo Emma geparkt war. Er rannte durch das stets offen stehende Hoftor, durchsuchte die Lager- und Maschinenhalle, blickte in den alten Brunnen und sogar in die Außentoilette – vielleicht hatte Gérard ja Verdauungsprobleme? Doch der Cassis-Bauer blieb unauffindbar.
    Also brach Pit ins Haus ein.
    Er musste sich nicht gegen die verschlossene Tür werfen, um sie zu öffnen. Pit kannte Mittel und Wege, oft reichte schon sein Taschenmesser.
    Im Haus brannte kein Licht, was nicht ungewöhnlich war, denn Gérard liebte die Düsternis. Nicht einmal Kerzen zündete er an, und häufig war abends nur das Glimmen seiner Zigarren zu sehen.
    Aber nicht nur Licht fehlte, auch Gérard.
    Vielleicht war er bereits bei seinen Johannisbeersträuchern? Ein akuter Notfall wie eine Pflanzenkrankheit, die seinen sofortigen Einsatz erforderte? Pit musste hinfahren.
    Doch er tat es nicht.
    Manchmal waren es Dinge, die er lediglich aus dem Augenwinkel sah, auf die Pit reagierte. Im Straßenverkehr ebenso wie beim gelegentlichen Spaziergang.
    Saatkrähen hockten auf dem Holzverschlag, in dem Gérard seine Streichholzskulpturen baute. Es waren nicht besonders viele und sie taten nichts anderes als sitzen.
    Und doch.
    Pit hatte Krähen noch nie gemocht. Die Vögel stoben auf, als er sich näherte und sie dabei anbrüllte. »Haut ab, ihr Drecksviecher!«
    Die Tür des Verschlags sicherte nur ein einfaches Vorhängeschloss. Doch es war nicht wie sonst außen angebracht, sondern innen. Diesmal trat Pit die Tür ein.
    Die Skulptur von Madeleine Poincaré war fertig. Selbst den Schwung ihres Haars hatte Gérard hinbekommen. Dieser lag zusammengekrümmt zu ihren Füßen, gekleidet in seinen besten Sonntagsanzug. Neben ihm ein zerbrochenes Glas, die violetten Schlieren verrieten, dass es Cassis enthalten hatte. Pit brauchte keine leere Tablettenschachtel, um zu wissen, was hier vorgefallen war. Er beugte sich zu Gérard hinunter und fühlte den Puls. Das Herz pumpte wie in Zeitlupe. Schnell zog Pit sein Handy hervor und wählte Jans Nummer.
    Wenige Sekunden später blickte Jan, der im Kuhstall der Käserei Vesnin stand, auf sein erlöschendes Handydisplay. Pit hatte nicht einmal Hallo gesagt, sondern nur gefragt, wie er einen Krankenwagen rufen konnte. Dabei war die Nummer europaweit gleich, überall galt 112. Als Jan wissen wollte, was eigentlich los war, hatte Pit nur »Keine Zeit« ausgestoßen und aufgelegt.
    »Wer war das?«, fragte Béatrice und unterbrach dafür sogar ihr Gespräch mit einer der Kühe.
    »Pit. Der Rocker. Soll ich noch etwas Stroh nachlegen?«
    Béatrice schüttelte den Kopf, wobei sich eine Haarsträhne aus ihrem Pferdeschwanz löste. »Viel streicheln und viel reden. Du musst sie behandeln wie Frauen.« Sie lächelte.
    Gut, dass sie das gesagt hatte.
    Plötzlich schob sich Emanuelle neben ihn. Ganz leise, als dürfte sie dieses Schauspiel nicht stören.
    »Endlich sieht die Herde wieder zufrieden aus. Wie macht sie das nur?«
    »Sie ist eine Kuhflüsterin.«
    Béatrice beugte sich ganz nah an das Ohr des Tieres vor sich und sprach leise, immer wieder unterbrochen von einem Lächeln oder einem Streicheln über den Kopf der Kuh.
    »Ich kann es immer noch nicht glauben«, flüsterte Emanuelle. »Ich meine, das ist Jean-François' Lieblingsherde, die Tiere haben sich von keinem außer ihm anrühren lassen. Nach seinem Tod sind sie tagelang lethargisch

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