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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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und sie ist abgestürzt. Jetzt schläft sie unter Brücken, ich weiß nicht einmal, wo. Ich würde sie so gern zurückholen, wenn ich bloß könnte. Sie ist doch meine kleine Schwester, und ich hätte auf sie aufpassen müssen…«
    Pit sah, wie Tränen in den Augenwinkeln des jungen Käsers erschienen und entschieden weggewischt wurden. »Was willst du jetzt machen? Der Bursche kann es jederzeit wieder versuchen. Bevor der Professor ihn nicht gefasst hat, ist kein Käser mehr sicher.«
    »Ich geh hier nicht weg! Meine Tiere brauchen mich, und ich habe keinen, der sich jetzt um sie kümmern könnte. Ich muss halt auf mich aufpassen. Nun bin ich ja gewarnt.«
    »Du warst auch vor der Sache heute gewarnt. Immerhin sind schon zwei andere Käser ermordet worden.«
    »Ich war eben blauäugig. Das bin ich jetzt nicht mehr!«
    Pit war unsicher, ob das reichte, um nicht umgebracht zu werden.
    »Pass auf, ich werde mich noch mal ganz genau hier umgucken, Fotos machen und so, sonst wird der Professor nämlich stinksauer auf mich. Den muss ich gleich auch unbedingt anrufen und alles haarklein berichten. Wenn du einen Platz zum Schlafen für mich hättest, wäre das super. Denn mein Rückflug geht erst morgen früh – und du hättest diese Nacht einen Leibwächter.«
    »Aber nur, wenn wir heute Abend zusammen einen trinken.«
    »Wenn's sein muss.« Pit griente, diese Korsen waren ein Völkchen nach seinem Geschmack.
    Und auch Davide konnte wieder etwas lächeln. Obwohl selbst das zu schmerzen schien.
    Gefühle waren unwissenschaftlich, deswegen verließ der Professor sich nie auf sie. Gefühle vernebelten die Einschätzungsgabe und arbeiteten gegen das Körperteil, vor dem er die größte Hochachtung hatte: dem Gehirn.
    Doch diesmal folgte er seinem Bauch.
    Der erste Weg führte ihn am Morgen nach Epoigey, zur Käserei der verstorbenen Madeleine Poincaré. Er war dort ganz offiziell, um den neuen Eigentümer zu beraten, denn Benoit hatte ihn als Experten für den Vacherin d'Epoigey genannt. Die Bezahlung bestand aus zehn perfekt gereiften Käselaiben. Ein Spottpreis, wenn man es genau bedachte.
    Dann fuhr er mit dem Fahrrad nach Dijon, zum runderneuerten Laden von Maître Hervé Picard. Es war wie bei Madonna, wenn sie während einer Show ihr Outfit wechselte. Fraglos dieselbe Frau, doch nicht wiederzuerkennen. Schon der Schriftzug über dem Geschäft war neu und trug nicht länger den Namen des berühmten Affineurs. »Fromage, Fromage, Fromage!« stand dort nun zu lesen. Es mutete an wie Karneval in Köln: Kamelle, Kamelle, Kamelle! Hoffentlich wurden die Kunden nicht mit Käse beworfen.
    Die Auslage war mit neonfarbenen Kugeln verschiedenster Größe bestückt, zwischen denen vor allem Käse eher unbekannter Fermier-Bauernhöfe lagen. »Entdecken Sie das neue Käse-Frankreich« stand darüber auf einem Plastikschild in Form einer Lupe.
    Jemand wie Hervé Picard, dachte Bietigheim, konnte diesen Käsern Tür und Tor öffnen – und das kulinarische Frankreich würde sicher bald über dessen neuesten Coup berichten. Das Land berauschte sich gerne an Revolutionen, selbst wenn sie in der Welt der Käse stattfanden. Hauptsache, irgendwas konnte geköpft werden, und wenn es nur ein Chèvre war.
    Die Mitarbeiter trugen nun Schwarz, die neue Farbe des Genusses. Schwarz, das Gegenteil von Weiß, so wie neu das Gegenteil von alt war. So einfach war die Welt.
    Bietigheim hatte Glück, Maître Fromager Hervé Picard persönlich anzutreffen, denn dieser weilte nur noch selten in seinem Reich. Gerade unterhielt er sich mit einer langbeinigen Dame, deren Minirock und Stöckelschuhe die Schenkel noch ein paar Zentimeter in die Länge zu ziehen schienen. Den Einrichtungs-Prospekten in ihrer Hand nach zu urteilen, schien es sich um eine Innenarchitektin zu handeln.
    Der Professor holte sämtliche Käse aus seiner Tüte und hielt sie Picard vor die Nase. »Wenn ich mich nicht täusche, sind das hier zurzeit die gesuchtesten Käse der Welt. Jeder Affineur, der diesen Käse liefern kann, erhält nicht nur viel Geld, sondern mit ein bisschen Verhandlungsgeschick auch langfristig gebundene Neukunden. Ich finde allerdings, dass diese Vacherin d'Epoigey bereits viel zu reif sind und man sie besser entsorgen sollte, um das Andenken der Dahingeschiedenen nicht zu beschmutzen. Also werde ich sie meinem Hund geben.«
    Benno von Saber wedelte. Er mochte keinen Käse und würde den Vacherin d'Epoigey keines Blickes würdigen, doch im Ärmel des Professors

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