Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
schien sich überhaupt nicht mehr aufzulösen, sondern drückte gegen die Steinwände des Schlosses, als wollte er sie sprengen.
Vielleicht ist es ja doch nur ein Mythos, Grace. Vielleicht ist der Fahle König nur eine Geschichte, mit der man kleine Kinder erschreckt.
Doch Mythen konnten real sein, das wußte sie mittlerweile, das konnte sie nicht abstreiten, und obwohl sie schon lange kein Kind mehr war, fürchtete sie sich bis ins Mark. Sie beobachtete die schweren Wolken, die sich auf Calaveres neun Türme herabsenkten und sie verschluckten. Bald war es soweit. Sogar schon sehr bald.
Grace drehte sich um und betrachtete versonnen die Tür. Vielleicht war es ja doch noch nicht vorbei. Da gab es noch immer jemanden, der ihr helfen konnte, die Entscheidung des Rates zu ändern, der möglicherweise helfen konnte, diese Welt zu heilen. Sie überprüfte ihr Haar in dem Spiegel aus poliertem Silber, versuchte es mit den Fingern in eine Art Form zu bringen – es war gewachsen –, dann begnügte sie sich damit, die haltlosesten Strähnen hinter ein Ohr zu stecken. Sie spritzte sich kaltes Wasser auf die Wangen, um sie zu erfrischen, dann richtete sie ihr violettes Gewand.
Warum tust du das, Grace?
Voller Angst, daß sie die wahre Antwort kannte, eilte sie aus der Tür. Mittlerweile kannte sie sich gut im Schloß aus, und ihre Füße schienen den Weg allein zu finden. Sie zögerte nur einen Herzschlag lang, dann klopfte sie an der Tür.
Er ist nicht da, Grace. Er war nicht einmal bei der letzten Ratssitzung, er wird nicht aufmachen.
Doch trotz dieses Gedankens wußte sie, daß er es tun würde, und einen Augenblick später schwang die Tür auf. Er schien zuerst ehrlich überrascht zu sein, dann lächelte er, und sein Blick, der so braun und stark wie Maddok war, wanderte ihren Körper entlang, bevor er dann wieder dem ihren begegnete.
»Lady Grace, Ihr habt gerade dafür gesorgt, daß mein Tag trotz der Dunkelheit draußen strahlend hell sein wird.«
Er brachte ein Mittelding zwischen einem Nicken und einer Verbeugung zustande. Beinahe hätte sie gelacht – es war so perfekt. Respektvoll und doch vertraut. Sie lächelte und versuchte sich an einem Knicks. Langsam wurde sie besser.
»Lord Logren …«
Sie wollte ihm mehr sagen, warum sie gekommen war, was sie von ihm wollte, aber die nötigen Worte verließen sie genauso gewiß, als hätte sie ihre halbierte Silbermünze verloren.
»Ich habe mir gerade gewürzten Wein bringen lassen«, sagte er. »Er ist noch warm. Ich finde, daß ist ein so guter Schutz gegen die Kälte. Natürlich nicht so gut wie Gesellschaft.«
Der Erste Berater von Eredane bat Grace mit einer Handbewegung hinein. Und es war Ihre Durchlaucht die Herzogin von Beckett, die die Einladung annahm. Die Tür schloß sich hinter ihr, und sie atmete tief ein. In dem kargen Raum roch es nach Gewürzen, allerdings war sie sich nicht sicher, daß sie nur von dem Wein stammten. Er roch genauso. Er reichte ihr einen Pokal Wein, prostete ihr mit seinem zu, und sie tranken. Sie wartete, bis sich die Wärme der Flüssigkeit in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte, dann schöpfte sie Atem, um zu sprechen.
»Lord Logren, ich brauche Euch.«
Er hob eine Braue, als wäre er sich nicht ganz sicher, wie er diesen Satz zu interpretieren hatte. Ihre Wangen röteten sich, und das lag nicht nur an dem Wein.
»Eure Hilfe, meine ich.«
Stimmte das denn? Hatte ihr erster Satz nicht viel näher an der Wahrheit gelegen?
Nein, Grace, du bist nicht aus diesem Grund hier, um wie Kyrene einen belanglosen Zauber zu wirken.
Sie zwang sich, den Pokal abzustellen, dann betrachtete sie Logren mit einem, wie sie hoffte, geschäftsmäßigen Blick. »Ich habe Euch letztens bei der Ratssitzung vermißt, Mylord, aber ich bin sicher, Ihr wißt, was geschehen ist.«
Er nickte neugierig. »Das weiß ich allerdings.«
Sie schluckte mühsam und fuhr fort. »Ich bitte Euch nicht, an den Fahlen König zu glauben, Mylord. Ich tue es, aber das ist jetzt nicht wichtig. Das ist nicht der Grund, aus dem ich gekommen bin. Was auch immer Ihr von Falkens Geschichten haltet, das Komplott zur Ermordung König Kylars war echt. Das kann keiner bestreiten, egal was Königin Eminda auch sagt.«
Ihre Stimme wurde kräftiger, überzeugender. Sie hob den Saum ihres Gewandes an und ging vor dem kleinen Kaminfeuer auf und ab, während sie sprach.
»Lord Alerain ist tot, aber er hat nicht allein gearbeitet – mit Sicherheit hat er sich nicht
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