Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
und ich kann nicht durch sie hindurchsehen.
Grace versteifte sich, als ihr diese Worte ungebeten durch den Kopf gingen.
Falls Ihr diese Macht jemals erforschen wollt, werdet Ihr diese Tür entriegeln müssen.
Angst durchfuhr sie wie ein Messer. Nein, sie konnte es nicht tun. Sie konnte diese Tür nicht öffnen. Nicht jetzt, niemals. Falls sie es täte, was würde das Feuer daran hindern, aus seinem Gefängnis auszubrechen und sie zu verschlingen?
Mit einem Aufschrei stieß Grace ihn von sich weg. Sie taumelte, stützte sich an der Wand ab. Logren sah überrascht und verletzt aus. Er streckte eine Hand nach ihr aus.
»Lady Grace …«
Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid.«
Sie gab ihm keine Gelegenheit zur Antwort. Sie drehte sich um, ergriff die beiden Seiten des Vorderteils ihres Gewandes, um es zu schließen, und stieß die Tür auf. Dann rannte sie den Korridor entlang und ließ das Hämmern ihrer Stiefelsohlen seine Rufe übertönen.
33
Travis stand auf einem der hohen Wehrgänge Calaveres. Es war eiskalt, aber er hatte an die frische Luft gemußt, um dem Qualm und dem Gestank zu entkommen, die im Schloß herrschten, und sei es nur für eine Weile. Die Höfe in der Tiefe unter ihm waren winzig: Adlige, Ritter, Bauern und Schafe sahen von hier oben wie Spielzeuge aus. Vielleicht waren sie das ja auch in Wirklichkeit. Er legte den Kopf in den Nacken und musterte die dunklen Wolken, die aus dem Norden herandrängten. Ein neuer König kam – oder ein alter, es spielte keine Rolle.
Vielleicht waren sie alle Spielzeuge.
Nein, Travis, so kannst du nicht einfach aufgeben. Jemand muß sich dem Fahlen König entgegenstellen, selbst wenn es nur ein Narr ist wie in Falkens Geschichte.
Er wandte das Gesicht der frostigen Brise zu und schloß die Augen, und das Gespür für die unermeßlichen Möglichkeiten meldete sich zurück, wie immer, wenn er sich dem Wind stellte. Vielleicht erkannte der Rat seinen Fehler, vielleicht vereinten sich die Domänen doch noch gegen den Fahlen König, vielleicht fand er doch noch einen Heimweg nach Colorado.
Die Luft gefror, der Wind hörte auf, und das Gespür für die Möglichkeiten verschwand. Er öffnete die Augen. Dort draußen war nichts, nur harter Stein und eine zu Eis erstarrte Landschaft, die nie wieder auftauen würde.
Er zitterte. Das waren kalte Gedanken, und ihm war schon kalt genug. Es war besser, ins Gemach zurückzukehren und sich am Feuer aufzuwärmen, selbst wenn Falken und Melia dort sein sollten. Er trat durch die Tür, die auf den Wehrgang führte, zog sie hinter sich ins Schloß und betrat den halbdunklen Wachraum.
Eine Faust raste aus den Schatten und traf ihn mitten auf der Brust.
Travis schlug hart gegen die hinter ihm befindliche Mauer. Er starrte erstaunt in das Dämmerlicht, dann rutschte er an der Wand zu Boden. Er versuchte, mit aufgerissenem Mund zu atmen, aber seine Lungen fühlten sich wie zerquetscht an – sie wollten keine Luft einsaugen.
Die Schatten vor ihm gerieten in Bewegung. Ein Stück Dunkelheit löste sich vom Rest, trat heran und blieb über ihm stehen: ein Mann in einer schwarzen Kutte.
Travis starrte zu ihm hoch. Vielleicht war es der Schrecken, vielleicht ein Reflex, aber er erschauderte, und mit einem heiseren Keuchen strömte ein Luftschwall in seine Lungen. Seine Hände scharrten über den Boden, Atmen war schmerzhafter als Ersticken. Der Mann schlug die Kapuze zurück, und Travis erblickte das Symbol, das auf seiner Stirn eingebrannt war.
Der Gefolgsmann des Raben grinste. Er berührte das Brandmal mit einem schwieligen Finger; es war noch frisch und sonderte eine gelbe Flüssigkeit ab.
»Gefällt es dir?« fragte er in einem krächzenden Flüstern. »Ich nahm es an, um meinem Meister meine Hingabe zu zeigen. Bald werden alle Menschen der Welt sein Zeichen tragen. Aber du nicht, Runenzauberer.« Sein abstoßendes Grinsen wurde noch breiter, ein Messer erschien in seiner Hand. »Du wirst tot sein.«
Travis versuchte sich zu bewegen, aufzustehen, aber sein Körper wollte ihm nicht gehorchen. Seine Hände zappelten wie sterbende Fische über den Boden.
Der Mann in der Kutte ging vor Travis in die Hocke, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter entfernt. Der Gestank, den er ausströmte, eine Mischung aus Schweiß, Fäulnis und altem Blut, ließ Travis würgen. Der Kultanhänger betrachtete ihn fahrig, und erst jetzt erkannte Travis, daß er ein blaues und ein braunes Auge hatte.
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