Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Wintersonnenwende.«
»Dann wird er funktionieren?« wollte Grace wissen.
»Ja«, erwiderte Trifkin. »Nein.«
Travis stöhnte auf. Das alles war zu viel. »Aber was wollt Ihr damit denn sagen? Wie kann denn beides sein?«
Der kleine Mann breitete die Arme aus. »Ein Baum hat viele Äste, und doch ist es nur ein Baum. Aber am Ende kann man immer nur einen Ast wählen, dem man folgt.«
Travis zögerte, dann grinste er. Es war wie das Gemach und der Wald. Manchmal konnten zwei Möglichkeiten gleichzeitig existieren, eine Straße gabelte sich, dem Baum entsprang ein Ast. Man konnte unmöglich wissen, welches der richtige Weg war, nicht, bevor man ihn gewählt hatte.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Grace. »Das wollt Ihr doch damit sagen. Uns bleibt noch eine Alternative.«
»Es wird immer Alternativen geben«, erwiderte Trifkin. »Nur weiß man nicht, für welche Möglichkeit ihr euch entscheiden werdet.«
Travis ging noch einen Schritt auf den kleinen Mann zu. »Ihr helft uns also?«
Trifkins rundes Gesicht wurde ernst. »Das Kleine Volk hat sich vor langer Zeit aus dieser Welt zurückgezogen. Sie hatte ihre Neuen Götter, also brauchte sie die Alten und ihre Kinder nicht mehr.«
Grace seufzte. »Dann helft Ihr uns also nicht.«
»Ja, das ist eine der Möglichkeiten.« Er stellte sich auf den Baumstumpf. »Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit. Das, was einst vergessen war, kehrt zurück. Wir haben uns in unseren Träumen von der guten alten Zeit verloren, aber jetzt kehrt die gute alte Zeit zurück. Die Zeit zum Handeln ist gekommen.«
»Aber was können wir tun?« fragte Travis.
Trifkin lächelte wieder. »Aber das weißt du doch schon. Du mußt diesem Ast nur bis zu seinem Ende folgen.«
Travis schüttelte den Kopf. Wie in aller Welt sollte er das wissen? Doch plötzlich, auf eine ihm unbekannte Weise, war ihm alles klar. Es leuchtete vor ihm auf, perfekt und vollkommen, wie eine reife Frucht, die er bloß noch zu pflücken brauchte. Er sah Grace an. Ihre Augen funkelten – sie verstand.
»Ihr müßt jetzt gehen«, sagte Trifkin.
Unheil lag in seiner Stimme. Die Bedeutung war klar: Sterbliche waren an diesem Ort nicht sicher.
»Aber zuerst muß ich jedem von euch ein Geschenk überreichen«, sagte der kleine Mann.
In seiner winzigen Hand erschien ein silberner Armreif. Daran baumelte ein dunkler, keilförmiger Stein. Er reichte ihn Grace, die ihn sich über die Hand streifte.
»Folge ihm, Klingenheilerin«, sagte er, »bis du lernst, deinem Herzen zu folgen.«
Ein in Blättern eingewickelter Gegenstand erschien in Trifkins Hand. Er überreichte Travis das Bündel.
»Was ist das?« fragte dieser.
»Beeilt euch«, flüsterte Trifkin.
»Aber …«
Travis blinzelte, wandte sich Grace zu. Vor ihnen fiel die Holztür ins Schloß. Sie drehten sich um und erblickten den embarranischen Ritter.
»Durge!« rief Grace aus. »Ihr seid ja noch immer hier.«
»Aber natürlich, Mylady. Ihr wart nur einen kurzen Augenblick fort. Er hat also nicht mit euch gesprochen?«
Grace brachte bloß ein Kopfschütteln zustande. Sie hob die Hand, und an ihrem Handgelenk blitzte es silbern auf.
Travis betrachtete das Bündel in seinen Händen. Es war nicht länger in Blätter eingepackt, sondern in grünen Filz. Mit zitternden Fingern schlug er das Tuch beiseite. Zum Vorschein kam eine Scheibe aus sahnig-weißem Stein. Sein Herz pochte wie verrückt. Er brauchte Falken nicht, um ihm zu sagen, worum es sich bei diesem Gegenstand handelte. Er kannte die Bedeutung der winkelförmigen Rune, genau wie die Bedeutung des gezackten Risses, der die Scheibe in zwei Hälften teilte.
Es war Gelth.
Das zweite Siegel des Runentors.
Und es war zerbrochen.
35
Nach einer Woche dunkler Wolken und Nebel brach der Tag vor der Wintersonnenwende strahlend und klar über Calavere herein. Während der Nacht hatte es geschneit, und ein dicker weißer Mantel bedeckte die Felder und Mauern Calavans. Grace stand bei Sonnenaufgang auf, stieß das Fenster weit auf und atmete die eisige Luft tief ein. Schnee bedeckte die Türme und Zinnen des Schlosses und verbarg zumindest für kurze Zeit den schlammigen Untergrund der Burghöfe.
Grace verbrachte den Tag mit einfachen Dingen. Sie ließ den Morgen am Kamin verstreichen und las ein Buch aus der Schloßbibliothek. Es war eine Geschichte Calavans. Sie las von dem furchtbaren Winter vor fünf Jahrhunderten, als der Dunkelwein einfror und Barbaren über das Eis einfielen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher