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Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige

Titel: Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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den Alten umkreisten, schoß aus jedem Stock eine Flamme und verwandelte sie in flackernde Fackeln. Die Ziegenmänner liefen immer schneller. Der Kreis wurde enger, der Winter hob die weißen Arme und schrie auf. Dann hielten die Ziegenmänner ihre Fackeln an sein Gewand.
    Grace keuchte auf, und mit ihr im Saal Hunderte andere. Als wäre sein Gewand aus dem Blitzpapier eines Zauberkünstlers geschneidert, flammte der Winter hell auf. Das grelle Licht blendete Grace einen Herzschlag lang, und als sich ihre Sicht wieder klärte, war der Alte verschwunden.
    Nein, das stimmte nicht. Wo eben noch der Winter gestanden hatte, ragte nun eine hölzerne Bahre auf. Darauf lag ein von Kopf bis zu den Zehen mit einem schwarzen Tuch bedeckter Körper. Vier Ziegenmänner hoben die Bahre mit muskulösen Armen hoch, während die Baumfrauen vor Freude erbebten. Dann trugen die Ziegenmänner die Bahre durch den Großen Saal. Sie blieben immer wieder stehen, damit jeder Gast eine Hand auf den Leichnam des Winters legen konnte und ein paar Worte sprach, wie Trifkin es befohlen hatte.
    »Schmelze, alter Mann!« riefen sie.
    »Gut, daß du verschwindest!« riefen andere.
    »Jetzt bist du so kalt wie mein Ehemann«, verkündete eine ältere Gräfin zur allgemeinen Heiterkeit jedes im Saal Anwesenden mit Ausnahme des grauhaarigen Mannes, der neben ihr saß.
    Grace sah dem Spektakel zu, und ihr stockte der Atem. Nein, das lief doch alles falsch. Wo war Travis? Er sollte eine Rolle in dem Stück spielen, als Narr verkleidet hätte er neben der Bahre gehen und sich umsehen sollen. Sobald er Grace dann das Zeichen gegeben hatte, sollte sie Aryn das verabredete Signal geben. Aber keiner der beiden war in Sicht, der Plan war spektakulär gescheitert, und Grace saß allein mit einem Mörder an ihrer Seite.
    Die Ziegenmänner drehten sich um, und die Bahre näherte sich der Hohen Tafel. Einige Herrscher runzelten die Stirn vor allem Sorrin und Eminda –, aber andere machten mit. Boreas legte genau wie Kylar eine Hand auf die Leiche, und beide gaben lautstark ihre Freude über sein Dahinscheiden kund. Ein offensichtlich betrunkener Lysandir lallte etwas Unverständliches und wäre auf die Bahre gefallen, hätten ihn zwei Diener nicht festgehalten. Die Ziegenmänner schritten die Reihe ab.
    Grace atmete in kurzen, abgehackten Zügen. Was sollte sie nur tun? Aber es war zu spät. Die Prozession war fast zu Ende – sie konnte nichts tun.
    Nein, Grace. Das ist nicht richtig. Es ist noch lange nicht vorbei.
    Die Stimme, die das sagte, war trocken und kalt; es war ihre Ärztinnenstimme. Die Furcht versiegte. Ein harter Teil von ihr drängte sich in den Vordergrund, der Teil, der ein Skalpell mit emotionsloser Effizienz führte, der Teil, der ohne zusammenzuzucken in lebende Körper hineingriff, um das in Ordnung zu bringen, was nicht länger funktionierte. Die Zeit verlangsamte sich, und die Luft war so hart und klar wie Harz. Sie wußte, was sie zu tun hatte. Wieder balancierte sie auf der Wippe. Wieder überschritt sie die Grenze.
    Die Ziegenmänner blieben vor Logren und Grace stehen. Sie erhob sich von ihrem Platz und setzte ein spielerisches Lächeln auf.
    »Wer ist dort in Schwarz gehüllt?« fragte sie. »Müßte der Winter nicht in Weiß gehüllt sein?«
    Sie nahm ihre Serviette vom Tisch, entfaltete das weiße Tuch und legte es auf die Leiche. Dann wandte sie sich noch immer lächelnd Logren zu.
    Er blickte sie nachdenklich an, dann zuckte er mit den Schultern und lächelte ebenfalls. Er streckte die Hand aus und legte sie auf den verhüllten Leichnam.
    »Ich weiß«, sagte er mit seiner sonoren Stimme, »daß wir alle froh sein werden, wenn dieser Winter nur noch eine …«
    Er verstummte, als ein Raunen durch den Großen Saal ging. Logren runzelte die Stirn, dann fiel sein Blick auf die Bahre.
    Blutrote Flecken erblühten auf der schneeweißen Serviette.
    Logren holte zischend Luft und riß die Hand zurück. Die Flecken wuchsen noch immer. Das Raunen verwandelte sich in Entsetzensschreie. Grace betrachtete die Bahre mit einem seltsamen Frohlocken.
    »Was ist hier los?« fragte Boreas finster mit gerunzelter Stirn.
    Grace stand aufrecht da, von Macht erfüllt. »Seht selbst, Euer Majestät!«
    Sie riß Serviette und Leichentuch weg. Noch mehr Schreie ertönten, Gäste sprangen auf die Füße. Auf der Bahre lag nicht der alte Schauspieler, der den Winter gespielt hatte. Es war Alerains Leiche. Sie hatten seinen Kopf wieder an die Schultern

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