Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
führte diese Tür in die Schattenkluft. Das war natürlich völlig unmöglich: Das Tal befand sich zweihundert Meilen nördlich von Calavere. Doch hier war es nur einen Schritt weit entfernt. Vor seinen Stiefelspitzen sammelte sich Schnee an.
»Das Runentor wird sich öffnen«, flüsterte Grisla. »Nur du allein kannst es schließen, Runenmeister.«
Travis schüttelte den Kopf. »Aber ich kann nicht.« Die Kälte, die durch die Tür hineinströmte, füllte seine Brust und ließ sein Herz erstarren. »Ich kann nur Dinge zerstören.«
»Ist das also deine Entscheidung, mein Junge?«
»Ich … ich weiß es nicht.«
Sie hob eine Hand und zeigte durch die Tür hindurch. »Dann geh und triff deine Wahl. Leben oder Tod.«
Er wollte sich umdrehen, weglaufen, aber er wußte, daß er nirgendwo anders hingehen konnte. Alle Wege, die er sich sein Leben lang hatte entlangtreiben lassen, hatten ihn an diesen Ort gebracht. Travis zog den Umhang enger und trat durch die Tür in das eisige Tal der Schattenkluft.
42
Beltan schwamm aufwärts auf ein flackerndes Licht zu.
Es fiel ihm schwer. Die Finsternis zog ihn in die Tiefe, als wäre er in voller Rüstung in einen See gefallen. Er war so müde. Er wollte aufgeben, wollte sich auf den Grund sinken lassen und sich ausruhen. Aber es gab keinen Grund, und die Finsternis war endlos.
Das Licht war nun näher herangerückt, rot und heiß. Es flimmerte direkt über ihm, und er konnte eine schattenhafte Gestalt ausmachen, die sich davor abzeichnete und auf ihn heruntersah. Die Finsternis umklammerte seine Knöchel und zog ihn zurück.
Jetzt, Beltan. Tu es jetzt!
Er trat sich von der Finsternis frei, streckte die Arme aus und schoß nach oben in das rötliche Licht. Er schnappte nach Atem, und die Luft, die in ihn hineinströmte, war schmerzhafter als das Wasser, das die Lungen eines Ertrinkenden füllte. Er riß die Augen auf und starrte in ein Feuer.
»So, ist mein tapferer Ritter aufgewacht?«
Die Stimme war ein spöttisches Säuseln. Beltan blickte sich nach ihr um, aber alles, was er sah, war ein Mahlstrom aus heißen und wütenden Flammen, die ihn begierig verschlingen wollten.
»Ich wollte gar nicht, daß Ihr aufwacht, mein Lieber. Ihr seid stärker, als ich dachte. Aber das spielt keine Rolle. Vielleicht ist es sogar besser so. Vielleicht ist es gut, daß Ihr seht, zu was Ihr werdet.«
Die Flamme zog sich zurück, seine Wangen kühlten ab, und er blinzelte. Das Feuer stammte von einer Fackel, und sie hatte sie dicht an sein Gesicht gehalten. Jetzt steckte sie sie in einen eisernen Halter, der an einer Steinwand befestigt war. Sie wandte sich wieder ihm zu, und Wut erfüllte ihn. Sprechen war eine Qual, als hätte jemand seine Kehle zerquetscht, aber er schaffte es, ein Wort zu krächzen, bevor der Schmerz zu groß wurde.
»Kyrene …«
Ihre blutroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Versucht nicht zu sprechen, mein Lieber. Das wird den Schmerz nur noch schlimmer machen.«
Diese Hexe sollte verdammt sein! Beltan wollte aufspringen, ihren Hals packen und ihn ihr umdrehen, bis er zerbrach.
Seine Glieder reagierten nicht. Sein ganzer Körper war von Taubheit erfüllt.
Ihr bösartiges Lächeln vertiefte sich noch. »In Euren Augen lodert ein solcher Haß, mein Lieber. Ich bin sicher, Ihr würdet mir gern die Kehle durchschneiden. Armer Kerl, wenn Ihr Euch doch bloß bewegen könntet. Aber ich fürchte, der Kranz, den ich webte, hat das verhindert. Es wird Stunden dauern, bevor Ihr auch nur wieder einen Finger rühren könnt, und dann wird es viel zu spät sein.« Sie ließ ihren harten Blick über seinen Körper streifen. »Eigentlich ist es eine Schande, daß der Schlangendorn alles von Euch lahmgelegt hat, mein Lieber.«
Beltan starrte sie an. Laß mich gehen, Hexe! Laß mich sofort gehen! Selbst wenn er sich hätte verständlich machen können, hätten die Worte nichts bewirkt. Er zwang sich zur Ruhe. In der Schlacht fühlte ein geschickter Krieger keine Wut, sondern Ruhe. Selbst wenn er sich nicht bewegen konnte, wußte Beltan, daß er hier einen Kampf austrug, und zwar einen Kampf bis zum Tod.
Seine Augen konnte er noch kontrollieren, also nutzte er sie dazu, um mehr über seine Umgebung in Erfahrung zu bringen. Er lag auf einer Art Steinplatte, sein Kopf ruhte auf einem Kissen, das, seiner Härte nach zu urteilen, ebenfalls aus Stein bestand. Sie hatte ihm die Kleider weggenommen, und er war nackt. Er ging davon aus, daß die Platte kalt war, aber
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