Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
beinahe willkommen geheißen.
Ein Knirschen ertönte.
Es war wie ein Donnerschlag, ein Laut wie das Verderben selbst, wie die brechenden Knochen eines Riesen. Travis fragte sich, ob die Feydrim ihm das Genick gebrochen hatten, aber er blinzelte und sah, daß die Kreaturen zurückwichen. Dann lagen sie zitternd am Boden, winselten und kratzten wie Hunde den Schnee beiseite, zugleich von Angst erfüllt und überglücklich, das Kommen ihres Herrn zu sehen.
Das Kommen ihres Herrn …
Travis blickte zum Runentor, und sein zu Eis erstarrtes Herz setzte einen Schlag aus. Eine Linie war auf dem Tor erschienen – ein dünner Spalt, der von oben und unten bis zur Mitte der Eisenplatte verlief. Fahler Lichtschein quoll durch die schmale Öffnung und teilte die Nacht in zwei Hälften, dann verbreiterte sich der Spalt und überflutete die Schattenkluft mit Licht.
Nach eintausend Jahren öffnete sich das Runentor.
Travis hob eine Hand, um sich vor der schaurigen gleißenden Helligkeit zu schützen, aber das war sinnlos. Das Licht durchbohrte sein Fleisch, seinen Schädel und seinen Verstand. Das war das Ende.
Ein anderer Laut ertönte. Er war leise – so leise, daß Travis ihn beinahe überhört hätte. Er schaute auf den Ritter hinunter, der zu seinen Füßen lag. Der Laut wiederholte sich: Ein leises Stöhnen kam über Beltans Lippen. Die Brust des Ritters hob und senkte sich. Der Atem war schwach und flach, aber es gab keinen Irrtum. Beltan lebte!
Aber nicht mehr lange, mein Sohn.
Es war nicht Jacks Stimme, die da in seinen Gedanken ertönte. Diese Stimme war so trocken wie ein Reibeisen, so süß wie Honig und so ungebändigt wie ein Blitzstrahl. Er versteifte sich.
In diesem Augenblick versickert das Blut des guten Ritters im kalten Boden. Und er wird bald selbst kalt sein. Es sei denn, du unternimmst etwas.
Travis schüttelte den Kopf. Aber ich kann nichts tun.
Das mußt du aber, mein Sohn.
Nein, ich kann es nicht. Ich kann nur Dinge zerstören.
Die Stimme war hart und gnadenlos und konfrontierte ihn mit einer Anschuldigung. Ist das also deine Wahl?
Die Kälte, die Travis erfüllte, wich blankem Zorn, der in ihm hochschoß. Es reichte! Er konnte es nicht länger ertragen.
Du verstehst nicht! schleuderte er der Stimme und sich selbst entgegen. Ich war’s! Verstehst du nicht? Ich habe sie getötet! Alice!
Er wartete nicht auf eine Erwiderung. Die Worte sprudelten aus der Finsternis seines Bewußtseins, als hätte sich endlich ein von eigener Hand versiegeltes Tor geöffnet.
Meine Eltern vertrauten sie mir an, als sie nach Champaign fuhren. Sie war krank. Sie war immer so krank. Ich las die Anweisungen auf der Flasche, aber ich brachte sie durcheinander, so wie ich immer alles durcheinanderbringe. Verstehst du nicht? Verstehst du nicht, was passiert ist? Ich verwechselte die Zahlen, die auf der Flasche standen. Ich glaube, sie wußte es. Ich glaube, sie wußte, daß das nicht richtig war, aber sie war so müde. Sie war so klein und so müde. Also gab ich ihr die Tabletten, und sie schluckte sie herunter, und dann sagte sie, sie liebe mich. Und wachte nie wieder auf. Die Verzweiflung war so groß, daß er glaubte, von ihr zermalmt zu werden.
Eine Pause trat ein. Und was wäre geschehen, wenn du ihr die Medizin nicht gegeben hättest? Wäre sie dann nicht gestorben?
Nein, darum geht es nicht! heulte Travis auf.
Doch, mein Sohn. Genau das tut es. Richtig oder falsch, Leben oder Tod. Wir alle müssen uns entscheiden.
Aber was ist, wenn ich mich falsch entscheide?
Und wenn du dich richtig entscheidest?
Dann war die Stimme verschwunden.
Das grelle Licht hüllte Travis ein. Auf seinen Wangen gefroren Tränen zu Eis. Es tat weh – es tat so unfaßbar weh –, aber nach all seiner Rastlosigkeit und dem ständigen Weglaufen erkannte er hier an diesem Ort am Ende die Wahrheit. Nur eine Sache war noch schlimmer, als sich falsch zu entscheiden, und das war, sich gar nicht zu entscheiden.
Ich liebe dich, Travis.
Ich liebe dich auch, Alice.
Travis schaute in das Licht und traf seine Entscheidung.
Einen erstarrten Augenblick lang blickte er durch den Spalt in die eisige Domäne Imbrifale. Jenseits des Eisentores wartete ein gewaltiges Schattenheer. Das Licht wühlte sie auf, sie entblößten Reißzähne, streckten Krallen aus, warfen von Haß und Qual geschüttelt gebogene Hörner in den Nacken. In der Mitte des Heeres erhob sich eine riesige onyxfarbige Bestie, aus deren Nüstern Flammen schlugen und
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