Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Dampfschwaden lösten sich von der Oberfläche. Aber das war nicht möglich.
Jemand zupfte an ihrem Ärmel. »Komm schon, Grace. Wir müssen gehen.«
Grace rührte sich immer noch nicht. »Aryn, was hast du gesehen? Im Krug, als du plötzlich geschwiegen hast.« Sie blickte die Baronesse an.
Aryn errötete und ließ den Kopf hängen. »Es ist dumm. Eine Laune, eine Einbildung. Es kann nichts bedeuten.«
»Erzähl es mir.«
Sie holte tief Luft und hob den Kopf, und jetzt lag in ihren blauen Augen ein Leuchten. »Ich war es, Grace. Die Königin mit dem Schwert, die auf einem weißen Pferd in den Krieg zog. Das war ich.«
Natürlich. Ivalaine hatte gesagt, daß das Wasser die Zukunft widerspiegeln konnte.
»Was ist mit dir, Grace? Was hast du gesehen?«
Die Zukunft … oder die Vergangenheit.
Grace schluckte. Ihr Mund schmeckte wie Asche. »Nichts, Aryn. Ich habe nichts gesehen. Komm jetzt, wir sollten uns besser zu König Boreas aufmachen.«
Sie schenkte dem Krug keinen weiteren Blick, als sie sich umdrehte und in den Gang hineinging.
11
Travis stützte das bärtige Kinn auf die Hände, sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die aus dem Westen heraufgezogenen Wolken die Felder, Hügel und Wälder Calavans verhüllten. Der bleierne Himmel reichte bis zu den Spitzen der Schloßtürme herab; Nebelschwaden wirbelten um die Zinnen. Unten auf den beiden Burghöfen Calaveres gingen Bauern und Dienstmägde und Wächter ihren Beschäftigungen nach. Das Leben an diesem Ort schien hart zu sein, aber Travis beneidete die Schloßbewohner. Wenigstens hatten sie etwas zu tun, und wenn die Arbeit auch bloß darin bestand, einen Karren Torf durch den Schlamm zu schieben.
»… aber es gelang mir gestern abend, ihn vor den königlichen Gemächern kurz zu erwischen«, sagte Falken gerade. Er ging in dem Gemach auf und ab, klimperte dabei auf der Laute herum, die an einem Lederriemen von seiner Schulter hing.
»Und was hat er dir erzählt?« fragte Melia.
Sie saß in der Nähe des Feuers, einen Schal über der Schulter. Auf dem Teppich zu ihren Füßen spielte ein schwarzes Kätzchen. Travis hatte nicht die geringste Vorstellung, wo es hergekommen war.
»Alerain sagte, daß der Rat nach jeder Abstimmung eine Pause von drei Tagen einlegen muß.«
»Drei Tage!« Melias kupferfarbene Haut verdunkelte sich. »Und wie viele Feydrim mehr werden in drei Tagen durch das Schloß schleichen? Und wie weit wird sich der Fahle König der Freiheit genähert haben?« Sie hob das Kätzchen auf und setzte es sich auf den Schoß. Es begann sofort damit, das mit Quasten geschmückte Ende ihrer Schärpe zu attackieren.
»Es ist frustrierend, da stimme ich dir zu, aber du weißt doch, wie es die Calavaner mit ihren Bestimmungen halten.«
»Fanatisch?«
Falken schnaubte. »Das ist höflich ausgedrückt. Du kannst übrigens König Indarus die ganze Schuld geben. Er ist derjenige gewesen, der die Regeln für die Einberufung des Rats aufgestellt hat.«
Melia streichelte das Kätzchen, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich hätte nicht übel Lust, es diesen Indarus bereuen zu lassen, daß er alle diese Regeln und Statuten niederschrieb.«
»Er ist seit drei Jahrhunderten tot, Melia.«
»Das stellt nicht notwendigerweise ein Problem dar.«
Travis wollte fragen, was damit nun wieder gemeint war, dann hielt er den Mund. Was bildete er sich ein? Daß Melia oder Falken ihn darüber aufklärten, was hier vor sich ging? Er war den beiden all die Meilen gefolgt, in dem Glauben, daß der Barde und die Lady nach dem Eintreffen auf Calavere eine Möglichkeit finden würden, ihn nach Colorado zurückzuschicken. Doch seit ihrer Ankunft im Schloß vor zwei Tagen hatte keiner von ihnen Travis’ Heimat auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt. Vielleicht wäre es erträglich gewesen, hätte Beltan ihnen Gesellschaft geleistet, aber Travis hatte den Ritter seit gestern bei der Ratssitzung nicht mehr gesehen.
Du könntest dich mit Grace unterhalten.
Erregung durchrieselte ihn bei dem Gedanken, aber er verwarf ihn wieder. Er hatte Grace bei der Ratsversammlung aus der Ferne gesehen. Sie schien sich in Gegenwart ihrer adligen Freunde so wohl gefühlt zu haben; Leute wie der Ritter Durge oder diese junge Baronesse mit den blauen Augen. Wie war noch mal ihr Name gewesen? Aryn?
Nur weil Grace von der Erde kommt, muß das noch lange nicht heißen, daß sie dich mag, Travis. Sie paßt hierher.
Ein leises, verlangendes Miau drang an seine
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