Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Blut.«
Travis versuchte, Eis aus dem Bart zu kratzen. »Ich kann dir nicht folgen.«
Graces Augen leuchteten auf. »Aber verstehst du denn nicht, Travis? Der verwundete Verschwörer ist zurück nach Calavere geritten.«
Die Kälte hatte seinen Verstand in Mitleidenschaft gezogen. Es dauerte einen Augenblick, bevor die Erkenntnis über ihn hereinbrach, dann sah er Grace erstaunt an. »Wir brauchen im Schloß also bloß jemanden zu finden, der heute abend verwundet wurde, und wir haben unseren Verschwörer.«
Grace grinste. Sie wollte etwas erwidern, aber plötzlich hallte ein anderer Laut durch die Luft. Hoch, durchdringend, silberhell: der Klang winziger Glocken.
»Was ist das für ein Ort, Travis?« Ihre Stimme war ein Flüstern aus Staunen und Furcht.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, vor langer, langer Zeit war er den Alten Göttern geweiht.«
»Den Alten Göttern?«
»Nicht die Götter der Mysterienkulte, sondern die, die es davor gab, die die Mütter und Väter des Kleinen Volkes waren, bevor sie alle verschwanden.«
Er konnte sehen, daß sie unter dem Umhang zitterte. Die Worte entschlüpften ihren Lippen zusammen mit den Wölkchen, die ihr Atem verursachte. »Das Kleine Volk …«
Wieder ertönte das Glockenspiel, deutliche, hohe Töne. Travis nahm Grace bei der Hand – sie mußten ihm folgen. Sie gingen zur anderen Seite des Kreises. Direkt dahinter schloß sich eine kurze weiße Fläche an, dann stieg eine miteinander verwachsene Mauer vom Boden in die Höhe, die in der immer finster werdenden Dämmerung schwarz aussah. Wieder ertönten die Glöckchen, aber Travis und Grace brauchten sie eigentlich nicht mehr, denn ihnen war klar, daß sie geführt wurden.
Als sich knorrige Gebilde vor ihnen auftürmten, blieben sie stehen. Das war der Rand des Dämmerwaldes. Jenseits gab es nur Schatten. Sie lauschten, aber es war nur noch das klagende Zischen des Windes zu hören, der durch die nackten Äste strich. Hier war nichts.
Nein, das stimmte nicht.
»Sieh«, sagte Grace.
Zuerst hielt er es für eine Art von Spuren, die sich im Schnee abzeichneten. Dann erkannte er, daß es sich überhaupt nicht um Spuren handelte. Es waren Worte.
KEIN SCHMERZ.
»Aber was bedeutet das?« fragte er.
»Ich weiß es nicht.« Die Worte kamen kaum an ihren klappernden Zähnen vorbei. »Es ist eine Botschaft.«
Er zitterte. Es war so kalt, und die Nacht brach herein. Er drehte sich zu ihr um. Wie schaffen wir es zum Schloß zurück, Grace? Er wollte die Frage laut stellen, aber er war zu starr, zu müde.
Grace blickte zu den Bäumen hin, dann zurück zu Travis, und sie nickte, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. Sie streckte die Arme aus und zog ihn an sich, dann schloß sie die Augen. Er glaubte, sie etwas flüstern zu hören.
»Berühre die Bäume …«
Und plötzlich war die Welt so warm wie im Frühling.
24
Sie erreichten das Schloß lange nach Einbruch der Dunkelheit, und zu dieser Zeit froren sie schon wieder. Als sie zu Calaveres Toren hinaufritten, verspürte Grace einen Stich der Panik. Du warst zu lange fort, Grace. Die Tore sind geschlossen, und du bist zu müde, die Weltenkraft erneut zu berühren. Ihr werdet beide hier draußen erfrieren.
Doch als sie näher heranritten, sahen sie, daß die Tore noch nicht geschlossen waren. Das Fest würde bis tief in die Nacht hinein dauern, und viele der geringeren Adligen und Berater übernachteten in der Stadt und nicht im Schloß und mußten daher in der Kälte den Hügel hinunter in ihre wartenden Betten stolpern. Die Wächter hoben die Hellebarden, als sie heranritten, aber nach einem Blick auf Graces geisterhaftes Antlitz nickten sie bloß. Sie und Travis ritten auf den Hof.
Sie übergaben dem Stallburschen, der genauso schläfrig wie zuvor erschien, die Pferde, dann kehrten sie in Travis’ Gemach zurück. Es war noch immer leer – die anderen waren noch nicht von dem Fest zurückgekehrt. Eigentlich war es auch noch gar nicht so spät. Sie waren kaum mehr als drei Stunden weggewesen. Es hatte nur den Anschein, als wären sie auf einer unglaublich langen Reise gewesen.
»Ich bringe das Feuer in Gang«, sagte Travis, nachdem sie die Tür geschlossen und ihre Umhänge aufs Bett geworfen hatten.
Grace hielt sich die Arme. Eine Zeitlang waren sie so warm gewesen, so wunderbar warm. Es war so leicht gewesen, mit der Gabe zuzugreifen, das Leben zu fühlen, das in den blätterlosen Bäumen verborgen lag, und es heranzuziehen. Die Weltenkraft war
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