Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
versank auch sie im Schlaf.
Ein leises Geräusch weckte sie. Zuerst hielt Grace es für Schneegestöber, da es so leise war. Sie schmiegte sich an den warmen Körper neben ihr – Travis – und überließ sich wieder dem Schlummer.
Aber wenn es der fallende Schnee war, wieso war es dann im Inneren des Gemachs ertönt?
Grace schlug die Augen auf. Es war ziemlich dunkel – das Feuer war heruntergebrannt. Sie sah nichts, dann hatten sich ihre Augen angepaßt. Im letzten blutroten Licht der Holzscheite funkelte über ihr etwas auf; es war lang, schlank und spitz. Dahinter schwebte ein Schatten, von dem sie ebenfalls keine weiteren Einzelheiten ausmachen konnte. Dann raste das Ding in die Tiefe, und sie wußte, was es war.
Grace rief das einzige Wort, zu dem ihr Zeit blieb. »Travis!«
Sie stieß hart gegen seine Schultern – er stöhnte protestierend auf –, dann rollte sie sich in die andere Richtung. Ein scharfes Zischen sauste an ihrem Ohr vorbei, gefolgt von einem dumpfen Geräusch. Das Messer hatte sich in etwas hineingebohrt. Matratze oder Fleisch? Sie konnte sich nicht herumdrehen, um es herauszufinden, sie hatte sich zu weit weggerollt. Das Bett unter ihr hörte plötzlich auf, und sie stürzte hart zu Boden.
Auf Händen und Knien blickte sie auf. Der Schatten stand jetzt vor ihr. Es handelte sich um einen Mann in einer schwarzen Kutte. Sie konnte das Gesicht nicht sehen – es war ein dunkler Fleck inmitten der schweren Kapuze –, aber seine Hand war groß und kräftig, und mit ihr hielt er das Messer gepackt. Seine Spitze war rot befleckt, und ihr Magen verkrampfte sich. Travis.
Nein, als er das Messer wieder hob, verwandelte sich die Klinge in kühles Silber. Es war der Feuerschein gewesen, kein Blut. Das Messer verharrte über ihr. Grace war klar, daß sie ihm niemals würde ausweichen können, sobald es wieder den Weg nach unten begann.
»Laß sie in Ruhe!«
Travis stand hinter dem Angreifer, das Stilett gezückt. Das Juwel in seinem Griff funkelte im Licht des sterbenden Feuers rot. Nein, das stimmte nicht. Der Edelstein reflektierte kein Licht. Das Licht flackerte vielmehr in seinen Tiefen, als besäße er ein eigenes Leben. Travis stieß mit dem Stilett zu.
Es erschien wie eine beiläufige, beinahe träge Geste. Der Mann in der schwarzen Kutte drehte sich um und schlug Travis das Stilett aus der Hand. Es flog quer durch den Raum und landete irgendwo in dem Dämmerlicht klirrend auf dem Boden. Dann stieß der Angreifer mit seinem Messer zu, während Travis ihn mit großen Augen anstarrte.
Nein. Grace dachte gar nicht daran, einfach nur dabei zuzusehen. Sie hatte in der Notaufnahme genug Tod gesehen. Sie warf sich aus ihrer unbeholfenen Position einfach nach vorn und griff nach allem, was ihre tastenden Hände finden konnten. Ihre Finger verkrallten sich in grobem Stoff. Die Kutte des Angreifers. Sie zog mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte.
Das war nicht viel – sie hatte keinen guten Griff –, aber es reichte. Sie riß den Kopf hoch und sah, daß der Angreifer stolperte und sein Stich ins Leere ging. Das Messer bohrte sich in das Holz der Türfassung. Travis wollte sich von dem Angreifer wegdrehen, aber eine dieser kräftigen Hände schoß mit unmöglicher Geschwindigkeit vor und traf seinen Hinterkopf.
Travis erschlaffte und brach auf dem Boden zusammen.
Grace schrie auf. Travis bewegte sich nicht. War er tot? Oder starb er gerade, entglitt ihm sein Leben mit jeder verstreichenden Sekunde, während sich sein Schädel mit Flüssigkeit füllte oder sich Splitter seines Hinterkopfs in sein Gehirn bohrten? Sie wollte zu ihm kriechen, aber schwarze Stiefel verstellten ihr den Weg.
Grace legte den Kopf in den Nacken. Der Mann in der schwarzen Kutte türmte sich über ihr auf. Er hatte sich sein Messer zurückgeholt und hielt es mit beiden Händen gepackt. Die Spitze zielte genau auf ihr Gesicht. Sie kannte die Schnelligkeit, mit der er sich bewegen konnte. Jeder Ausweichversuch war völlig sinnlos.
Ich komme, Leon.
Ein weiteres Aufblitzen zerschnitt das Halbdunkel. Das Messer glitt aus den Händen des Angreifers, sein Kopf kippte zur Seite. Grace runzelte unwillkürlich die Stirn. Warum zögerte er? Dann fiel sein Kopf mitsamt Kapuze von seinen Schultern und landete mit einem feuchten Dröhnen auf dem Boden. Der Mann stürzte wie ein gefällter Baum, und Grace sah zu, wie dunkles Blut aus dem Halsstumpf pumpte.
»Mylady, geht es Euch gut?«
Der Klang der Stimme ließ
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