Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
und enthüllte ein Stück saphirblauen Himmel. Bleiernes Sonnenlicht machte aus den cremefarbenen Wolken honigfarbene, und sie schmolzen dahin.
Travis fröstelte. So wie es aussah, blieb es ihm überlassen, das Feuer in Gang zu bringen. Er kniete vor dem Kamin nieder und stocherte in der Asche herum.
»Travis, ich bin froh, daß ich dich gefunden habe.«
Der Schürhaken landete klappernd auf dem Stein, und Travis sprang mit pochendem Herzen in die Höhe. Dann holte er tief Luft. »Hast du noch nie gehört, daß man anklopft?«
Grace biß sich auf die Lippe. »Die Tür war offen.«
»Mit anderen Worten, sämtliche Höflichkeit ist aus dem Raum geweht?«
Sie umklammerte den Türrahmen, ihr Gesicht hatte jede Farbe verloren. »Es tut mir so leid, Travis. Ich werde … ich werde …«
Er seufzte und hob die Hand. »Du wirst reinkommen, Grace. Bitte.«
Sie nickte, trat ein und schloß die Tür. Travis beobachtete sie dabei. Ihr violettes Gewand war schlichter als gewöhnlich, aber sie war noch immer wunderschön. Es fiel nicht schwer, ihr die Herzogin abzunehmen. Sie war so selbstbewußt, so majestätisch. Doch warum schienen dann die einfachen Dinge wie Türen oder andere Menschen sie immer so aus der Bahn zu werfen?
»Was geht hier vor, Grace? Das Schloß erscheint wie ausgestorben.«
Ihr Gewand knisterte, als sie näherkam. »Heute abend findet ein großes Fest statt. Alle sind unten im Großen Saal.«
»Und was für eine Überraschung, daß ich nicht eingeladen wurde.«
»Eigentlich wurdest du das ja, aber ich sagte Lord Alerain, daß du dich nicht wohl fühlst, daß ich dich pflegen will und daß keiner von uns zu dem Fest kommen könnte.«
»Warum?«
Sie befeuchtete sich die Lippen. »Travis, ich brauche deine Hilfe.«
Instinkt ließ seine Nackenhaare sich aufrichten. Vielleicht war es das Feuer in ihrem Blick, vielleicht der entschlossene Zug um ihren Mund, vielleicht auch der Umhang, den sie über das Gewand geworfen hatte. Er war schwer, mit Pelz abgesetzt, ein Reitumhang. Was auch immer es nun war, Travis drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Er hob sich schon bleich vom hellen Winterhimmel ab, aber er konnte ihn sehen, wie er sich dem westlichen Horizont näherte: der zur Sichel geschmolzene Mond.
»Es ist heute, nicht wahr?« fragte er. »Heute ist der Tag, an dem du jene beiden Personen gesehen hast, die innerhalb des Steinkreises stritten.« Er runzelte die Stirn und versuchte, die Dinge zu sortieren. »Ich meine, du hast sie nicht heute gesehen. Aber heute ist der Tag, an dem es geschah. Oder geschehen wird. Oder geschieht, oder …«
Er faselte; das mußte aufhören. Sie zögerte, dann ergriff sie seine Hand.
»Das ist unsere einzige Möglichkeit zu erfahren, wer sie sind, Travis. Zu erfahren, was tatsächlich im Schloß vor sich geht.«
Travis stöhnte. Es war lächerlich. Es war gefährlich. Es war dumm. Und was das schlimmste war, es stimmte. Es war dem Kreis nicht gelungen, die Leute des Rabenkults auf frischer Tat zu ertappen – oder eine Markierung in der Nähe von König Boreas’ Gemächern zu entdecken. Das war die Chance, die Identität der Verschwörer aufzudecken.
»Aber warum hast du nicht Durge oder Beltan gefragt?«
»Boreas oder Sorrin würden ihre Abwesenheit auf dem Fest bemerken. Sie könnten mißtrauisch werden.«
Travis seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Kamin, wo seine Bemühungen ein paar winzige Flammen zurück ins Leben gerufen hatten. Etwas sagte ihm, daß es eine Weile dauern würde, bevor ihm wieder warm sein würde.
»Ich hole meinen Umhang«, sagte er.
Grace lächelte. Das war ein Ausdruck, den man nur selten bei ihr sah, und darum nur um so kostbarer. »Vielen Dank, Travis.«
Im Stall befand sich nur ein einziger Stallbursche, und es fiel der Herzogin von Beckett nicht schwer, ihn zu überzeugen, sie einzulassen. Er gähnte und nickte, als sie ihm sagte, sie würden zwei gesattelte Pferde brauchen.
»Komm schon«, sagte Grace, als sie ein Pferd an den Zügeln in den Mittelgang des Stalls führte.
Travis betrachtete das große, schwarze Schlachtroß, das sie hoch überragte. »Auf diesem Pferd willst du reiten?«
»Er heißt Schwarzlocke – das ist Durges Pferd.« Grace strich dem Hengst über die Nüstern, und das Pferd schnaubte leise. »Ich glaube, er erinnert sich an mich.«
»Und ich glaube, er könnte mich ins Stroh trampeln, ohne es zu bemerken.« Für Travis hatte der Stallbursche den sandfarbenen Wallach
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