Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
sie nicht zu Asche verbrannt worden, sie hätte sie angezogen.
Vergiß nicht, wer du bist, Grace Beckett. Du konntest nicht das Leid in der Notaufnahme einer mittelgroßen Stadt heilen. Nicht mal annähernd. Wie kommst du auf die Idee, du allein könntest eine ganze Welt heilen?
Sie trat von dem Kamin fort, schaute auf und sah in der Fensterscheibe einen Geist. Er war bleich und durchsichtig; das Gewand verschmolz mit dem Nebel, in dem er trieb, die grün-goldenen Augen strahlten hell in dem ausdruckslosen Antlitz. Grace studierte den Geist. In der Notaufnahme hatte es mal einen hysterischen Mann gegeben, der behauptete, Señora Blanca gesehen zu haben, die Dame in Weiß, und daß er dazu verdammt sei, noch vor Ende der Nacht zu sterben. Um halb acht war er allen Tests zufolge bei guter Gesundheit gewesen. Um drei Minuten nach Mitternacht hatte Grace seinen Tod festgestellt.
Sie begegnete dem ätherischen Blick des Geistes. Vielleicht hätte sie Angst haben sollen. Statt dessen grinste sie, und der Geist grinste mit einem kadaverhaften und zugleich heiteren Ausdruck zurück. Andererseits, warum sollte man Angst haben, wenn das einzige, was einen heimsuchte, man selbst war? Grace trank ihren Maddok aus, stellte die Tasse ab und verließ das Gemach, um sich ihrem Untergang zu stellen.
»Guten Morgen, Mylady.«
Die Stimme klang tief und düster, und sie ließ Grace lächeln, wie keine fröhliche Begrüßung es jemals zustande gebracht hätte.
»Durge. Habt Ihr dort die ganze Nacht gestanden?«
»Nein, Mylady. Ich habe mich eine Zeitlang mit Auf-und-ab-gehen beschäftigt.«
Grace studierte Durges verwittertes Gesicht; es wies tiefe Linien auf, aber nicht mehr als gewöhnlich. Wann schlief der Ritter? Sie wußte es nicht, aber sie war dankbar für seine Gegenwart. Es erschien unwahrscheinlich, daß der Rabenkult zweimal in einer Nacht einen Anschlag auf ihr Leben unternehmen würde – andererseits erschien es auch unwahrscheinlich, daß sie überhaupt ihren Tod wollten.
»Welchen Dienst kann ich Euch erweisen, Mylady?«
»Ihr könnt Euch ausruhen, Durge. Bitte.«
»Dafür wird später noch Zeit sein.«
Ihr Tonfall klang einstudiert, die heruntergeleierte Erwiderung einer überarbeiteten Ärztin. »Längerer Schlafentzug kann Halluzinationen und Gefühle extremster Euphorie erzeugen.«
»Höhenflüge voller Phantasie und Luftschlössern?«, sagte Durge tadelnd. »Mylady, ich bin ein Ritter Embarrs.«
Sie biß sich auf die Lippe. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? »Es tut mir leid, Durge. Ja, da gibt es etwas, das Ihr für mich tun könntet. Geht zu Lady Aryn und bringt sie zu König Boreas’ Gemächern.«
Der Ritter verbeugte sich, drehte sich dann ohne eine Frage zu stellen um und schritt den Korridor entlang. Grace schloß fest die Augen. Sie verdiente keine solche Loyalität. Eines Tages werde ich ihm einen Befehl geben, der ihn umbringt. Nein, so durfte sie nicht denken. Durge war nicht nur ihr Ritter-Hüter. Er war ihr Freund. Sie öffnete die Augen wieder und eilte den Korridor entlang.
Falken machte die Tür auf, an der sie schließlich anklopfte.
Das Gesicht des Barden sah abgezehrt aus, seine blauen Augen blickten trüber als je zuvor. Trotzdem brachte er ein Lächeln zustande. »Lady Grace. Ich nehme an, Ihr hattet seit unserer letzten Begegnung keine weiteren Besucher mehr?«
»Nur Durge. Er verbrachte die ganze Nacht vor meiner Tür.«
»Gut«, sagte Beltan. Der blonde Mann stand hinter dem Barden. Er trug einen grimmigen Ausdruck im Gesicht, doch statt des Schwertes hielt er einen Kanten braunes Brot in der Hand.
Falken blinzelte Grace zu. »Wir hatten vergangene Nacht unseren eigenen Türsteher. Ich glaube, es liegt an den Kettenhemden. Sie bringen sie dazu, reglos in einer Ecke stehen zu wollen.«
Grace schlug sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.
»Das habe ich gehört!« sagte Beltan. Er stopfte sich mehr Brot in den Mund.
»Kein Wunder, daß Ritter Rüstungen tragen müssen«, sagte Melia. »Sie sind schrecklich empfindlich.«
Die kleine Frau stand neben dem Kamin. Travis saß vor ihr auf einem Stuhl. Sie tauchte einen Lappen in eine Schale voller heißem Wasser, in dem Kräuter schwammen, und drückte ihn auf Travis’ Hinterkopf. Travis stöhnte schmerzerfüllt.
»Wie geht es ihm?« fragte Grace.
»Der Blutbann, den Ihr mir gegeben habt, hilft. Die Schwellung geht zurück. Ich glaube, er wird es überleben.«
Travis zog eine Grimasse. »Das ist Eure
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