Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
einmal gesehen.
»Schneidet ihn auf«, sagte sie.
Ein besorgter Ausdruck trat auf Melias Gesicht. »Wovon redet Ihr, mein Kind?«
»Tut es, Durge.« Graces Tonfall war plötzlich ganz ruhig, emotionslos; es war die Stimme einer Ärztin, die im Traumaraum ihre Anweisungen gab. »Schneidet seine Brust auf.«
»Mylady«, erwiderte der Ritter, »vielleicht solltet Ihr …«
»Dann gebt mir Euer Schwert. Ich mache es selbst.« Sie nahm ihm das Schwert aus der Hand, noch bevor er reagieren konnte. Es war schwer. Sie zerrte es unbeholfen zu der Leiche.
»Nein, Grace, tu das nicht«, sagte Travis entsetzt, aber sie ignorierte ihn.
Sie mußte es wissen, mußte sicher sein. Die anderen traten zusammen mit dem Raum in den Hintergrund. Da waren nur noch sie und die Leiche. Sie setzte die Schwertspitze auf die Brust, dann stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Griff. Rippen knirschten, als die Klinge in den Körper eindrang. Sie bewegte sie hin und her, dann warf sie sie beiseite und sank neben dem Leichnam auf die Knie. Mit bloßen Händen griff sie in den Schnitt und zog. Aber sie konnte nicht richtig zufassen, die Rippen waren zu stark. Sie brauchte eine vernünftige Stelle, wo sie ansetzen konnte. Da, das Messer des Angreifers. Sie hob es vom Boden auf, stieß es in den Einschnitt, drückte es mit einer gezielten, geübten Anstrengung herunter und schuf eine richtige Öffnung in der Brust. Schwarzes Blut quoll empor.
»Bei allen Göttern!« fluchte Falken.
»Ich verstehe nicht«, sagte Beltan angespannt. »Was ist das?«
Grace flüsterte die Worte, eine schreckliche Diagnose. »Es ist ein Herz aus Eisen.«
Sie ließ das Messer fallen. Starke Hände halfen ihr auf die Füße. Durge. Ihre Hände waren blutverschmiert.
»Was geht hier vor, Grace?« fragte Travis; sein Gesicht war bleich vor Schmerz und Furcht.
Grace setzte zu einer Erklärung an, aber Falken kam ihr zuvor.
»Ihr habt meine Geschichte vor dem Rat gehört«, sagte der Barde. »Daß der Fahle König ein aus Eisen geschmiedetes Herz hatte. Ich habe jedoch nicht erzählt, daß Berash seinen Sklaven ebenfalls Eisenherzen gab, um sie an sich zu binden.«
Melia betrachtete Grace nachdenklich. »Woher wußtet Ihr über die Eisenherzen Bescheid, mein Kind?«
Sie holte zitternd Luft. Wie sollte sie das alles nur erklären, die Nacht in der Notaufnahme, in der sich alles verändert hatte? »Ich habe schon einmal eins davon gesehen. Auf der Erde.«
»Aber wie konnte einer von Sorrins Leibwächtern ein Diener des Fahlen Königs sein?« fragte Beltan.
Durge strich sich über den Schnurrbart. »Und warum sollte ein Sklave Berashs die Kutte eines Anhängers des Rabenkults tragen?«
»Versteht Ihr denn nicht, Durge?« Das kam von Travis. Er stand auf den Füßen, als hätte er den Schlag auf den Kopf vergessen. »Der Rabenkult ist mit dem Fahlen König verbunden. Was bedeutet, daß der Fahle König hinter dem Mordkomplott hier im Schloß steckt.«
Falken runzelte die Stirn. »Mordkomplott?«
Grace und die anderen Mitglieder des Kreises des Schwarzen Dolches tauschten schuldige Blicke aus.
»Ich glaube, einige Leute haben hier etwas zu erklären«, sagte Melia scharf. Dann fiel ihr Blick auf die Leiche, und ihre Worte wurden sanfter. »Aber das kann bis zum Morgen warten.«
»Wir müssen dem Rat davon Bericht erstatten«, sagte Falken.
Melias Miene war unbewegt. »Und was sollen wir ihnen sagen?«
Der Barde holte tief Luft. »Daß der Fahle König seiner Freiheit schon näher ist, als wir befürchteten.«
Die Worte des Barden ließen Grace erschaudern, und sie wußte, daß keine Magie dieser oder einer anderen Welt die schreckliche Kälte in ihr hätte erwärmen können.
ZWEITER TEIL
Die Tore des Winters
25
Grace schaute aus dem Fenster in die eisengraue Morgendämmerung und wußte, daß sie König Boreas alles sagen mußte.
Sie drehte sich um, fröstelte, trank einen Schluck vom Maddok, den eine Dienerin beim ersten Licht gebracht hatte, dann zog sie sich vor dem Feuer an. In letzter Zeit hatte sie die helleren Gewänder ihrer Garderobe getragen: amethystviolett, rubinrot, jadegrün. Sie war zu gut darin geworden, die Kleidung dieser Welt anzuziehen – sie hatte zugelassen, daß die Gewänder zu bequem wurden. Heute wählte sie ein schmuckloses, unbequemes Kleid, das die gleiche Farbe wie der Nebel hatte, der Calaveres Türme einhüllte. Hätten ihr die alten Hosen und die weiße Bluse zur Verfügung gestanden, wären
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