Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Schmerzen.
»Mörderin!« kreischte Adira. »Ihr bringt ihn ja um!«
»Still, du dumme Göre!« zischte Vayla. »Sie ist seine einzige Chance.«
Adira schlug beide Hände vor den Mund, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Der junge Mann fiel zurück auf die Pritsche; er hatte das Bewußtsein wieder verloren. Ein kleiner Segen. Grace legte das Messer weg und richtete sich auf.
»Wir müssen seine Temperatur sofort herunterbekommen, oder sein Blut wird ihm das Gehirn kochen.«
Die Alte nickte. »Kaltes Wasser, Mädchen«, fauchte sie Adira an. »Hol es sofort.«
Es gab ein kleines Fenster über dem Bett. Grace trat zu ihm hin und warf die hölzernen Schlagläden weit auf. Kalte Luft strömte in den Raum. Sie schloß die Augen und ließ die Kälte ihre Wangen kühlen und den Rauch aus ihrem Verstand fortblasen. Sie schlug die Augen wieder auf und sah einen Teller mit Brot auf der Fensterbank stehen, zusammen mit einem Holzbecher voller Wein.
»Das sind Opfergaben«, erklärte Vayla.
Grace drehte sich um. »Opfergaben? Wofür?«
»Für das Kleine Volk. Es heißt, sie können den Geist eines kranken Mannes stehlen. Wir überlassen ihnen Wein und Brot, damit sie beschwichtigt werden und zum nächsten Haus weiterziehen.«
Grace warf noch einen Blick auf das Brot. Falken hatte behauptet, das Kleine Volk sei in Vergessenheit geraten, aber offensichtlich stimmte das nicht. Aber gehörte das Kleine Volk nicht zu den Guten?
»Es sind seltsame Wesen«, sagte Vayla, als hätte sie Graces unausgesprochene Frage gehört. »Gut oder Böse bedeutet ihnen nichts. Sie existieren einfach nur.«
Adira kehrte mit einem Eimer Wasser zurück. Sie schluchzte, als sie ihn abstellte. Grace und Vayla tauchten Lappen in den Eimer und legten sie dem jungen Mann auf Arme und Brust. Dann gab Grace Vayla die Phiole, die sie mitgebracht hatte, und erklärte ihren Gebrauch.
»Wird er es überstehen?« fragte Adira mit zitternder Stimme.
Grace legte ihm die Hand auf die Stirn. Ja, seine Temperatur sank, und die Heilkräuter würden helfen. Sein Schlaf war bereits viel friedlicher. Es gab so vieles, das jetzt noch schiefgehen konnte. Das Messer hatte möglicherweise nicht alles von dem gangränen Fleisch weggebrannt. Die Infektion war möglicherweise schon zu weit fortgeschritten. Die Verbrennung hatte ihn in einen Schockzustand versetzt. Sie schloß die Augen. Nein, nichts davon traf zu. Sie konnte es fühlen, konnte die Stärke seines schlagenden Herzens fühlen, als hielte sie es in der Hand.
»Er wird leben«, sagte sie.
Als sie die Hütte verließen, war es bereits völlig dunkel. Der Junge, den Adira beauftragt hatte, Grace ins Schloß zurückzuführen – einer der jüngeren Brüder der Dienstmagd –, hielt eine kleine, aus Horn geschnitzte Laterne hoch, in der ein Kerzenstumpf brannte.
»Kommt, Mylady.« Seine Stimme klang dünn und ängstlich.
Grace nickte und ging hinter ihm her. Sie war erschöpft, fühlte sich aber auch auf seltsame Weise leicht und aufgeladen, wie eine in einem elektrischen Feld gefangene Staubflocke. Auf dieser Welt gab es soviel Schmerz, soviel Leid. War sie es überhaupt wert, gerettet zu werden?
Doch sie hatte sich diese Frage noch nicht richtig gestellt, als sie auch schon an ihre letzte Unterhaltung mit Leon Arlington denken mußte. Sie wußte, wie er sich entschieden hätte, und sie wußte, wie sich die Menschen entscheiden würden. Egal, wie groß das Leiden auch war, es war immer besser, am Leben zu sein.
Sie kamen zu dem großen Platz, und Grace war überrascht, daß er nicht verlassen dalag. Ein paar Fackeln flackerten und maskierten den Gestank der Abwasserkanäle mit ihrem beißenden Rauch. Eine Handvoll Leute hatte sich in dem Licht versammelt. Der Junge zupfte an Graces Ärmel, und sie suchte sich hinter ihm einen Weg durch den Dreck.
Sie hatten die andere Seite des Platzes fast erreicht, als Grace den Mann in der schwarzen Kutte entdeckte. Ein kalter Stich durchfuhr ihr Herz, und sie kam stolpernd zum Stehen.
»Bitte, Mylady«, sagte der Junge. »Bitte, wir dürfen nicht verweilen. Nicht nach Einbruch der Dunkelheit.«
Grace nahm seine Worte kaum wahr. Sie tat einen Schritt vorwärts. Der Mann wandte ihnen die Seite zu, die schwere Kapuze der Kutte verbarg sein Gesicht. Fackelschein flackerte über den dunklen Stoff und verlieh ihm eine blutrote Aura. Zuerst glaubte sie, er sei es – der Mann, den sie in jener Nacht im Schloß erblickt hatte, der den Dolch hatte fallen
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