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Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige

Titel: Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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lassen –, aber dann erkannte sie, daß das nicht möglich war. Er war kleiner und stämmiger als derjenige, den sie dabei beobachtet hatte, wie er etwas in die Tür schnitzte.
    Der Mann breitete die Arme aus. Er sprach zu der Gruppe. Nein, er sprach nicht, er predigte, seine Stimme hob und senkte sich wie bei einem wütenden Lied, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Die Menge betrachtete ihn, die Gesichter, die im Fackelschein einen blutroten Anstrich bekamen, verzückt gehoben. Grace tat den nächsten Schritt.
    Die Arme des Mannes erstarrten mitten in der Luft. Er verstummte. Dann, als würde er spüren, daß er beobachtet wurde, drehte er den Kopf, und die Kapuze fiel zurück. Er ließ die Blicke über den Platz schweifen, dann entdeckte er Grace, und ihr Atem verwandelte sich in ihren Lungen zu Eiswasser.
    Selbst in dem schwachen Licht konnte sie sehen, daß das Gesicht des Mannes grobschlächtig und bösartig war. Auf seiner Stirn war ein mit Asche aufgemaltes Symbol, das sie mittlerweile gut kannte. Zwei gebogene Linien: die Rune des Raben. Aber nicht das bannte ihre Aufmerksamkeit. Es war die Farbe seiner Augen. Das eine war blau, das andere braun. Die Erinnerung schlug wie eine Woge über ihr zusammen. Sie hatte solche Augen schon einmal gesehen.
    Furcht legte ihre feuchten Finger um Graces Hals. Er kannte sie. Er hatte sie gesehen und sich an sie erinnert, und jetzt würde er den schlammigen Platz überqueren und sie töten.
    Grace taumelte zurück, und das Glühen einer Fackel brannte sich in ihre Netzhaut ein. Sie fuhr herum und stolperte vorwärts, tastete mit blinden Händen suchend umher, dann prallte sie gegen etwas Hartes. Eine Steinmauer.
    »Mylady … was ist?«
    Ihre Sicht klärte sich. Sie sah den Jungen vor sich stehen, sein Gesicht ein bleicher Mond der Angst. Sie sah über die Schulter. An der Gassenmündung flackerte es rötlich – der Stadtplatz. Aber von dem Mann des Rabenkults war nichts zu sehen, anscheinend verfolgte er sie nicht. Ihr blieb noch genug Zeit.
    Neue Dringlichkeit erfüllte sie.
    »Das Schloß«, sagte sie. »Ich muß ins Schloß. Sofort.«
    Der Junge nickte ruckartig und mit weit aufgerissenen Augen. Sie wußte, daß ihr Antlitz so hart wie ihre Worte war, aber das war ihr egal. In diesem Augenblick spielte nur eine Sache eine Rolle. Der Junge lief die schlammige Gasse entlang. Sie hob den Saum ihres Gewandes und eilte ihm mühsam nach, während die Erkenntnis wie Gift in ihrem Verstand brannte.
    Kein Schmerz.
    Grace wußte, wer der Verschwörer war.

29
    Travis ließ den Schürhaken fallen, mit dem er das Feuer bearbeitet hatte, und schaute auf, als die Tür zu seinem Gemach aufflog.
    »Grace«, sagte er, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »Was ist denn?«
    Sie trat in den Raum. Er hatte sie noch nie so gesehen. Ihre Stirn war schweißüberströmt, der Umhang saß verrutscht über dem Gewand. Ihre grün-goldenen Augen blitzten.
    »Ich weiß, was sie bedeuten, Travis«, sagte sie. »Die Worte, die wir im Schnee gesehen haben, im Dämmerwald.«
    Es war, als wäre das Feuer plötzlich erloschen, obwohl Travis wußte, daß es noch immer im Kamin prasselte. Er erhob sich. In dem Raum war es still – er hatte weder Falken noch Melia den Tag über gesehen. Der Barde und die Lady schmiedeten wie gewöhnlich ihre Pläne.
    »Was meinst du damit, Grace?«
    »Kein Schmerz. Sie fühlen keinen Schmerz.«
    »Wer fühlt keinen Schmerz?«
    »Die Eisenherzen.« Ihre Worte kamen so schnell wie Maschinengewehrfeuer. »Ich meine, sie fühlen schon Schmerz. Das habe ich selbst erlebt. Das hat mir geholfen, ihnen in Denver zu entkommen. Aber ich glaube nicht, daß sie Schmerz auf die gleiche Weise wie wir empfinden, und ich glaube auch nicht, daß sie ihn lange Zeit empfinden. Die Annahme, wir könnten einen verwundeten Verschwörer aufspüren, war falsch. Wir hätten ihn trotz seiner Verletzung niemals aufgespürt.«
    Plötzlich verstand Travis, und er fröstelte. »Das also wollte Trifkin uns sagen – daß die betreffende Person nicht wie ein Verwundeter aussieht.«
    Grace nickte steif. »Aber da ist noch mehr, Travis.« Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ich habe etwas in der Stadt gesehen …«
    Übelkeit stieg in ihm empor, als er ihren hastigen, bruchstückhaften Worten lauschte. Als sie geendet hatte, zwang er sich, sein Entsetzen herunterzuschlucken. Sie hatten sich geirrt – auf schreckliche Weise geirrt.
    Ihre Blicke trafen sich. »Wir müssen die anderen

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