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Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige

Titel: Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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Bauchseite.
    Wäre dieser Mann in die Notaufnahme eingeliefert worden, hätte Grace ihn für das Produkt einer mißhandelten Kindheit oder für ein Straßenkind gehalten. Falls er unter achtzehn war, hätte sie die Sozialbehörden informiert. Hier war er ein normaler Mann mit Menschen, die sich um ihn sorgten. Auf dieser Welt lebte jeder auf diese Art, das hieß, zumindest das normale Volk. In Grace stieg Wut auf. Was für eine Hölle war das hier eigentlich?
    Eine knorrige Hand legte ein warmes Tuch auf die Stirn des jungen Mannes. Ein stechender Geruch stieg daraus auf. Grace erkannte ihn aus ihrem Unterricht. Das Tuch war in Trauerkranz getaucht worden. Sie konnte die Salizylsäure beinahe schmecken. Es war eine Art Analgetikum, gut gegen Schmerzen.
    Grace ließ den Blick von der verkrümmten Hand zum Gesicht der Frau schweifen, die Adira Vayla genannt hatte, und sog zischend die Luft ein. Also waren nicht alle Hexen wie Ivalaine oder Kyrene. Die Frau war uralt, ihr Rücken ein Buckel unter einer Handvoll Lumpen. Dünne graue Strähnen entschlüpften der schäbigen Kapuze wie Rauchschwaden durch Dachspalten. Ihr Gesicht war faltig, die Wangen eingefallen; ein Auge quoll hervor, während das andere nur noch aus einer runzeligen Masse Fleisch bestand.
    Die alte Vettel grinste Grace an und enthüllte gelbe Zähne. »Was denn? Findest du mich nicht schön, Herzogin?«
    Grace konnte sie bloß anstarren, dann biß sie die Zähne zusammen und wandte sich wieder ihrem Patienten zu. »Er hat erhöhte Temperatur. Er ist nicht zyanotisch, also gibt es keinen Hinweis auf einen Pneumothorax. Es ist keine Virusinfektion. Abdomen ist nicht gespannt oder empfindlich. Keine Zeichen für eine Blinddarmentzündung.«
    »Wovon sprecht Ihr da, Mylady?« Adiras Gesicht war furchterfüllt. »Belegt Ihr ihn mit einem Zauber? Was macht Ihr mit ihm?«
    Grace ignorierte sie. »Es muß einen anderen Grund für das Fieber geben. Aber welchen?«
    »Er stirbt«, sagte die Alte.
    Grace sah Vayla wütend an. »Nicht, solange ich etwas dagegen tun kann.«
    Die Alte erwiderte den Blick, dann nickte sie. »Was soll ich tun, Herzogin?«
    »Hilf mir, ihn auf die Seite zu drehen.«
    Grace brauchte die Hilfe des alten Weibes eigentlich gar nicht. Er fühlte sich so leicht und hohl wie ein Vogel an. Das Delirium ließ ihn stöhnen – er wachte auf. Grace tastete ihn mit Händen und Blicken ab, auf der Suche. Es mußte etwas geben, einen Hinweis …
    Da. Sie entdeckte es erst, nachdem Vayla die zerknüllte Decke von seinen Füßen genommen hatte. Direkt über seinem linken Knöchel war eine Wunde, klein, aber tief. Grace beugte sich darüber, und der süße Geruch der Fäulnis ließ sie würgen.
    »Ich brauche mehr Licht.«
    Das alte Weib hielt eine Kerze, und Grace untersuchte den Schnitt. Er war rund und voller Stoffasern und Dreck.
    »Dafin hat sich neulich am Pflug geschnitten«, sagte Adira. »Er beschwerte sich, es täte ihm weh, aber es war doch bloß ein ganz kleiner Schnitt. Das kann ihn doch nicht so krank gemacht haben, oder?«
    Grace antwortete nicht. Ihr fehlte die nötige Zeit, eine junge Frau aus dem Mittelalter über unsichtbare Keime und Blutvergiftung aufzuklären. Entzündet aussehende rote Linien schlängelten sich bereits das Bein empor. Ein paar Stunden später wäre Amputation die einzige Möglichkeit gewesen, und Grace war klar, daß er das nicht überleben würde – nicht hier, nicht unter diesen Bedingungen. Im Augenblick gab es noch eine andere Möglichkeit.
    Grace zog das Messer aus dem Stiefelschacht und hielt es Vayla hin. »Erhitze die Klinge.«
    Die Alte nickte und stieß das Messer ins Feuer. Sie warteten, dann zog sie es wieder heraus und reichte es Grace mit dem Griff zuerst. Grace konnte die Hitze spüren, die von dem Metall ausging.
    »Halt ihn fest.«
    »Hilf mir«, befahl die Alte Adira.
    Adira schüttelte den Kopf, gehorchte aber. Sie hielten den Körper ihres Bruders fest. Das Delirium ließ ihn sich bewegen und Worte murmeln. Grace beugte sich über ihn und verharrte. Trotz seines geschundenen Körpers sah sein Gesicht wunderschön aus. Ein zerbrochener Engel, der vom Himmel gefallen war. Es gab auf dieser Welt so wenig, das gut war. Grace würde nicht zulassen, daß er sie verlassen mußte.
    Sie verstärkte den Griff um das Messer, dann drückte sie die heiße Stahlspitze in die Wunde. Der Gestank von brennendem Fleisch erfüllte die Luft. Er riß die Augen auf, sein Kopf flog zurück, und er schrie vor

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