Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
sehen.
Ein schrilles Kreischen zerriß die Luft in der Hütte. Die Frau sprang mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht auf die Füße. »Krondrim!« schrie sie. »Die Verbrannten!«
Sie hätte beinahe Durge umgestoßen, als sie aus der Tür in das graue Zwielicht stürmte. Der Ritter sah Grace verständnislos an. Sie versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war so trocken wie eine Wüste. Sie zwang sich dazu, sich wieder umzudrehen.
Der Mann auf dem Bett lag nun still und ruhig da. Er betrachtete sie mit seinem perfekten blauen Auge. Dann bewegten sich unglaublicherweise seine aufgeplatzten Lippen. Dunkle Flüssigkeit rann sein Kinn herunter. Trotz ihres Abscheus beugte sich Grace näher an ihn heran, um seine Worte zu verstehen. Dabei konnte sie die Hitze fühlen, die er ausstrahlte.
»Tötet mich«, flüsterte er.
Grace erschauderte. Sein blaues Auge sah zum Herd. Grace folgte dem Blick und sah den scharfen eisernen Schürhaken, der dort an den Steinen lehnte. Sie sah den Mann wieder an und öffnete den Mund, aber sie brachte keinen Ton hervor.
»Bitte.« Das Wort war so trocken wie Asche. »Solange Ihr noch könnt. Tötet mich.«
Grace fing an, den Kopf zu schütteln. Sie konnte es nicht tun. Es wandte sich gegen alles, was sie war, alles, wofür sie als Ärztin stand. Sie begann, sich wieder aufzurichten. Dann sah sie den Rauch, der dort von der Decke aufstieg, wo sie noch seinen Körper bedeckte. Der Stoff brannte.
Er wird bald wie die anderen sein …
Sein menschliches Auge fixierte sie. Ein Meer des Schreckens lag darin, während das andere so flach und leer wie das Weltall war. Es gab nur noch eine Behandlung für ihn.
»Bitte …«
Grace biß die Zähne zusammen, dann griff sie nach dem Schürhaken.
32
Es wurde wärmer, als sie nach Osten reisten.
Kurz nach der Morgendämmerung kroch die Hitze aus dem feuchten, von der Sonne erwärmten Boden, bis Grace sie goldenem Nebel gleich in der Luft schweben sehen konnte. Die Luftfeuchtigkeit machte jeden Wärmeaustausch unmöglich, aber ihre Schweißdrüsen wußten das nicht und produzierten weiterhin große, nutzlose Bäche von Salzwasser, bis ihre Augen brannten und ihr Reitgewand schwer und durchnäßt war.
Die Feuchtigkeit kam durch die Nähe des Flusses sowie die dichte Vegetation; das östliche Calavan war viel wilder und dichtbewachsener als das Herz der Domäne, das seit Jahrhunderten bestellt wurde. Hier streckten sich schlanke Koniferen himmelwärts, obwohl sie ein Gewirr von Schlingpflanzen erdrückten und zurück auf den Waldboden zerrten. Seit dem Besuch der medizinischen Fakultät in North Carolina war Grace an keinem Ort mehr gewesen, an dem es so vor Leben wimmelte. Dort hatten alle Gegenstände über die ungewöhnliche Fähigkeit verfügt, ohne Vorwarnung Schimmel anzusetzen. Sie hielt an ihrem Gewand nach den ersten Flecken Ausschau.
Am vergangenen Abend waren die Reiter schweigend von dem Bauernhaus in Nähe der Ruinen Tarafels fortgeritten. Grace hatte keinem erzählt, was sie dort drinnen getan hatte, und Durge hatte ihre Handlungen nicht gesehen. Sie wurde jedoch niemals das Gewicht des Schürhakens in ihrer Hand vergessen oder den Widerstand, der ihr begegnet war, als sie die Spitze auf das Obsidianfleisch des Mannes gedrückt und es viel zu hart befunden hatte, um es durchstoßen zu können. Dann hatte ein saphirblauer Schimmer ihre Aufmerksamkeit erregt, und ihr war klargeworden, daß es an seinem Körper nur noch eine einzige weiche Stelle gab.
Sein Schrei war kurz, trocken und schrecklich gewesen. Durge war an ihre Seite gestürzt, aber da brannte die Decke bereits, und Flammen leckten die zundertrockenen Hüttenwände hinauf. Die zwei waren aus der Tür gestürzt, und als sie die anderen erreicht hatten, war das Bauernhaus ein feuriges Inferno. Was aus Yarens Frau geworden war, konnte keiner sagen. Die anderen hatten sie Augenblicke vor Grace und Durge aus dem Haus stürmen sehen, aber sie war in die andere Richtung gerannt und im Zwielicht zwischen den Bäumen verschwunden.
Als die Dunkelheit hereingebrochen war, hatten sie eine scheußliche Nacht in dem einzigen unversehrten Gebäude verbracht – einem windschiefen Stall, der in seiner letzten Inkarnation Hühner beherbergt hatte. Sie hatten nicht geschlafen und waren beim ersten Licht aufgebrochen, voller Erleichterung, diesen Ort verlassen zu können.
Die Sonne war gerade aufgegangen, als sie entdeckten, was aus Yarens Frau geworden war. Durge fand ihre Leiche; sie lag
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