Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
rief ihr jemand hinterher, allerdings konnte sie nicht sagen, ob es Aryn oder Lirith war. Sie sah einen dunklen Schatten im Augenwinkel und wußte, daß Durge ihr hinterher ritt. Er würde zu spät kommen. Sie brachte Shandis vor dem Haus zum Stehen und ging zur Tür.
Durge war schneller, als sie gedacht hatte. Dreck spritzte hoch, als Schwarzlocke keine zwei Schritte von ihr entfernt rutschend zum Stehen kam. Durge sprang mit klirrendem Kettenhemd aus dem Sattel und legte ihr die Hand auf den Arm.
»Mylady, das ist Wahnsinn. Ihr könnt da nicht reingehen.«
Als Grace Durges Hand auf ihrem Arm spürte, stieg in ihrer Brust ein seltsames Gefühl auf. Es war keine Wut. Dafür war es zu kalt, zu abweisend. Die einzige Möglichkeit, es zu verstehen, bestand darin, es in Worte zu kleiden.
Wie kannst du es wagen, unsere Person zu berühren?
Sie sprach diese Worte nicht aus, aber ihr Blick mußte sie trotzdem vermittelt haben. Der Ritter riß erstaunt die Hand zurück. Grace drehte sich um, stieß die Tür auf und trat ein. Drinnen herrschte Dämmerlicht. Die Luft war von scharfem Rauch erfüllt sowie dem feuchten Geruch von Krankheit.
»Mylady«, krächzte eine Stimme. »Ihr dürft hier nicht eintreten.«
Grace entdeckte die Gestalt einer Frau, deren Umrisse vom flackernden Licht eines Herdfeuers erhellt wurden. Sie hockte zusammengekrümmt neben einer primitiven Bettstelle, barfuß und mit Lumpen bekleidet. Etwas auf dem Bett wand sich und stöhnte.
Zum allerersten Mal durchdrang ein scharfer Stich der Unsicherheit ihr Selbstvertrauen als Ärztin. Grace ignorierte es. Hier ging es nicht nur um Pflicht. Sondern um Notwendigkeit. Vage war sie sich Durges bewußt, der in der offenen Tür stand und den Umhangsaum vor Mund und Nase drückte.
»Schon in Ordnung.« Graces Stimme bebte. Sie räusperte sich und fing noch einmal von vorn an. »Ich bin Heilerin.«
Die Frau strich sich mit den Fingern durch das verfilzte Haar. Trotz Durges Beschreibung war sie nicht viel älter als Grace. Nur ausgelaugt und verbraucht vom Leben auf dieser Welt.
»Ihr könnt ihm nicht helfen«, sagte sie. »Ihr könnt keinem von ihnen mehr helfen. Es ist zu spät. Zu spät.«
»Ich will ihn ansehen«, sagte Grace.
Sie trat an das Bett. Das Stöhnen wurde lauter, der Rauchgestank penetranter. Die Gestalt unter der schmutzigen Decke krümmte sich zusammen und streckte sich wieder. Seltsamerweise erinnerte der Anblick Grace an eine Motte, die sich in ihrem Kokon wand und die Metamorphose durchmachte, deren Körper sich auflöste und verwandelte. Es erschien wie ein Wunder, aber es mußte auch sicher schmerzen. Sie griff nach der Decke.
»Nein, Mylady!« zischte die Frau. »Berührt ihn nicht!«
Grace zögerte. »Warum? Wird die Krankheit so über tragen?« Aber das war eine dumme Frage. Die Frau konnte nichts vom Konzept der Keimübertragung wissen.
»Es ist die Flammenpest, Mylady. Er wird bald wie die anderen sein. Er wird sich zu ihnen gesellen, wenn sie wiederkommen.«
»Die anderen? Wie viele sind denn an der Seuche erkrankt?«
Die Frau zeigte matt in Richtung Tür. »Alle. Es hat sie alle erwischt. Euch auch, wenn Ihr nicht geht. Ich bin die einzige, die übriggeblieben ist. Ich und Yaren. Oh, Yaren!«
Die Frau schlang die dünnen Arme um die aufgeschürften Knie, wiegte auf dem Boden vor und zurück und schluchzte, während Grace sie nur anstarrte. Hier stimmte etwas nicht. Die Worte der Frau ergaben keinen Sinn. Wenn die Seuche die anderen befiel, wie konnten sie dann zurückkommen? Grace stählte sich, griff nach der Decke und zog sie zurück.
Ihre Hand flog zum Mund, aber sie konnte ihr Keuchen nicht unterdrücken. Der Mann auf dem Bett hatte kaum noch etwas Menschliches an sich. Seine Haut war blasenübersät und sonderte Flüssigkeit ab, als wäre jeder Quadratzentimeter seines Körpers verbrannt worden. Die Fäulnisgase, die von ihm aufstiegen, waren so konzentriert, daß sie Grace den Atem raubten und es ihr schwindelte. An einigen Stellen hatte sich die verbrannte Haut in Streifen abgeschält, aber es wurden keine bloßen Muskelstränge enthüllt, sondern etwas anderes, etwas, das hart, glatt und so schwarz wie polierter Obsidian aussah.
»Was geschieht mit ihm?« flüsterte Grace und versuchte mühsam zu verstehen.
Der Mann schlug die Augen auf. Das eine war wunderschön und hob sich blau von seinem zerstörten Gesicht ab. Das andere war völlig schwarz – es gab weder eine Iris noch das Weiße des Augapfels zu
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