Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
Zwielicht empor, um die Berge einzuhüllen. Sie näherten sich dem Tor und kamen dabei an einem großen Objekt vorbei. Ein Schauder durchlief Grace, als sie den Monolith aus ihrer Vision erkannte. Hier hatten sie Travis also festgebunden. Hier würden sie ihn festbinden.
Aber du wirst da sein, Grace. Ich weiß zwar noch nicht, wie du es machen wirst, doch du wirst eine Möglichkeit finden, ihn zu retten.
Der Monolith blieb hinter ihnen zurück, und das dreieckige Tor des Turms ragte vor ihnen in die Höhe. Sie hatten es noch nicht ganz erreicht, als es aufschwang. In der Öffnung stand ein alter, bärtiger Mann in einer grauen Kutte. Er wurde in ein Licht so bleich wie das des Mondes getaucht, aber es kam aus dem Turm und nicht von außerhalb. Seine Augen blickten wie die eines Adlers, in den Händen hielt er einen verzierten Stab. Hinter dem Alten standen andere Kuttenträger, einschließlich eines Mannes, dessen Gesicht von dünnen weißen Narben gezeichnet war.
»Ein Ritter von Calavan, ein Ritter von Embarr, drei Töchter Sias und ein Kind mit Verbrennungen.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Das ist eine seltsame Gruppe, die da an meine Tür gekommen ist.«
Grace entfuhr ein einzelnes, überraschtes Wort. »Runen?«
Ein flüchtiges Lächeln umspielte die verwelkten Lippen des alten Mannes – vielleicht war es auch nur ein Schatten gewesen. »Nein, Euer Durchlaucht. Uns hat keine Magie verraten, wer Ihr seid. Wir alle kennen die Geschichte Travis Wilders und seiner Gefährten. Es ist nicht schwer, Euch zu erkennen. Bis auf das Kind. Und Euch, Mylady.« Er nickte Lirith zu. »Ihr seid eine Gräfin aus dem südlichen Toloria, richtig?«
Lirith nickte.
Grace durchfuhr ein Schauder. »Travis, er ist hier, nicht wahr?«
Der Alte nickte wieder, aber jede Spur des Lächelns war verschwunden.
Beltan trat mit grimmigem Gesichtsausdruck an Graces Seite. »Wir müssen mit Travis sprechen. Sofort.«
»Ihr werdet ihn sehen«, sagte der Alte. »Aber nicht sofort.«
Er gab dem narbengesichtigen Mann ein verstohlenes Zeichen. Grace verstand die Bedeutung zu spät. Beltan griff nach dem Schwert, aber er war viel zu langsam.
»Sinfath!«
Ein Dutzend Stimmen sprachen das Wort in widerhallender Harmonie; Schatten schossen heran und hüllten Grace in einen erstickenden Schleier aus Zwielicht. Sie hörte die gedämpften Schreie der anderen und wußte, daß auch sie verloren waren. Dann verfinsterte sich das Zwielicht und legte sich wie Nebel auf ihr Bewußtsein, und alles wurde grau.
12
Durch den Fensterschlitz seiner Zelle beobachtete Travis, wie die ersten kupferfarbenen Flecken den azurblauen Himmel vergoldeten. Es war fast soweit.
Er schaute auf seine Hände und sah, daß sie zitterten. Vielleicht war es Furcht. Vielleicht war es auch einfach nur Hunger. Sie hatten ihm den ganzen Tag lang nichts zu essen gegeben – nur einen Krug metallisch schmeckenden Wassers, den ein Geselle mit grimmigem Gesicht kurz nach Morgengrauen gebracht hatte. Danach war keiner mehr gekommen, und er hatte auf dem Bett gesessen und zugesehen, wie der dünne Streifen Sonnenlicht die Wand entlangkroch.
Er hatte natürlich die Tür untersucht. Nicht weil er glaubte, sie sei unverschlossen, sondern weil er das Gefühl hatte, daß es von ihm erwartet werden würde. Aber die Tür rührte sich keinen Millimeter, obwohl er keine Rune der Verriegelung an ihr entdecken konnte; diesmal mußten sie stärkere und weltlichere Riegel genommen haben, um ihn einzusperren. Er starrte die Tür eine Zeitlang an und befahl ihr in Gedanken, sich zu öffnen, halb erwartend, daß Himmel grinsend auf der anderen Seite stehen und ihn befreien würde. Nach einer Weile hörte er damit auf.
Du bist allein, Travis. Sie halten Himmel von dir fern. Und diesmal wird Beltan nicht kommen und dich retten, nicht wie damals am Runentor. Das war’s.
Er seufzte, als er an den gutmütigen Ritter dachte. Er wünschte sich, er hätte Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Es wäre nett gewesen, zu erfahren, wie es ihm ging. Aber das würde nicht passieren, oder?
Obwohl Travis es eigentlich nicht wollte, konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie lange das Sterben dauern würde. In der Domäne Eredane hatte er einmal einen Runensprecher gesehen, der vom Rabenkult an einem Pfahl festgebunden worden war. Sie hatten ihn dort wie eine Vogelscheuche hängen lassen. Das Schild an dem Pfahl hatte ihn als Häretiker gebrandmarkt.
Häretiker. So hatte ihn auch Oragien genannt.
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