Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
war so erstaunt, daß sie sich nicht rühren, nicht in die Freiheit stürmen konnte, was sie hätte tun sollen, wo sie nun die Gelegenheit dazu hatte. Statt dessen sah sie zu, wie ein Mann – er trug anstelle der grauen eine braune Kutte – die Zelle betrat. Er war jung, kaum älter als zwanzig, mit einem häßlichen, aber gutherzigen Gesicht.
»Wer seid Ihr?« fragte Grace.
Der junge Mann zog etwas aus der Kutte und hielt es ihr hin. Grace ging auf ihn zu. Es war eine Hand aus grauem Stein. Sie warf Aryn und Lirith einen überraschten Blick zu den diese erwiderten, dann wandte sie sich wieder dem Besucher zu.
»Was ist das?« flüsterte sie, davon überzeugt, daß etwas Wichtiges geschehen würde.
Der junge Mann öffnete den Mund. Sie sah den Fleischstumpf, wo einst seine Zunge gewesen war. Er bewegte den Unterkiefer, was sein Gesicht noch verzerrter erscheinen ließ. Dann kamen Laute aus seinem Mund.
»Oh … rig.«
Grace starrte ihn an. Ihr Instinkt sagte ihr, daß dies das erste Mal seit Jahren war, daß dieser Mann etwas gesagt hatte, vielleicht sogar seit seiner Kindheit, in der man ihn seiner Zunge beraubt hatte. Zitternd hielt er ihr die Steinhand näher hin und sprach erneut.
»Oh-rig.«
Die Hand war am Gelenk abgebrochen, als wäre sie Teil einer größeren Statue. Ohrig. War das ein Wort für Hand?
Nein, Grace. Das ist es nicht. Denk daran, er hat keine Zunge. Das bedeutet, daß er bestimmte Laute nicht formen kann.
Sie nahm die Hand entgegen und sah ihm in die Augen. »Olrig. Das ist die Hand von Olrig, einem der Alten Götter.«
Er nickte und grinste, seine Augen strahlten.
Aryn trat vor. »Grace, was geht hier vor?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es …«
Der junge Mann gab ihr einen weiteren Gegenstand. Graces Finger schlossen sich um weichen Stoff. Sie schüttelte das Kleidungsstück aus und keuchte auf: Es war eine nebelgraue Kutte.
Ihr Besucher gestikulierte, seine Bewegungen waren so beredt wie leise gesprochene Worte. Zieht sie an, Mylady.
Sie wandte sich Aryn und Lirith zu und zuckte hilflos mit den Schultern.
Liriths Augen strahlten so hell wie zwei glühende Kohlen. »Grace, Ihr müßt gehen. Ich habe eben aus dem Fenster geblickt. Die Runensprecher versammeln sich bereits.«
Grace packte die Kutte fester. »Aber …«
»Wir haben nur eine Kutte.« Aryn berührte sie an der Schulter. »Wir versuchen Beltan und Durge zu befreien. Geh jetzt, Grace. Du bist Travis’ einzige Chance.«
Grace sah die beiden Frauen an. Dann drängte sich Tira zwischen sie. Sie tätschelte Graces Hand, schaute auf und schenkte dem Mann ein wunderschönes halbes Lächeln. Er grinste zurück. Grace hob die Kutte.
»Nun, jetzt oder nie«, sagte sie.
14
Travis kämpfte gegen die Hände an, die ihn hielten, aber es war sinnlos. Seine Stiefel schleiften über harten Schiefer, als sie ihn zu dem Holzstoß zerrten, der unterhalb des Monolithen wartete.
Das nächste Mal, wenn du zum Tode verurteilt wirst, vergiß nicht, sie zu fragen, welche Methode sie benutzen. So kannst du diese ätzenden Hinrichtungstags-Überraschungen vermeiden.
In der Menge der grauen Kutten erkannte Travis ein Paar kurzsichtige braune Augen. Eriaun. Der untersetzte Bruder rang die dicken Hände, als Travis an ihm vorbeistolperte. Dann verschwand er aus der Sicht, als die anderen Brüder den Halbkreis hinter Travis wieder schlossen.
Die Vollstrecker stießen ihn dem Nullstein entgegen, und alle Laute und Geräusche blieben zurück und wurden gedämpft und verschwommen, so als hörte man sie in einem Traum. Seine rechte Hand juckte, und er wußte, daß wenn er jetzt versuchte, eine Rune zu sprechen, es ihm die Zunge spalten würde.
Er rutschte auf dem Holz aus, als ihn die Runensprecher an den Schultern packten und hart gegen den Stein drückten. Ihm wurde die Luft aus den Lungen gepreßt. Bevor er sich bewegen konnte, hatten sie ihn mit einem dicken geflochtenen Strick an den Stein gefesselt. Einer von ihnen riß ihm den Knebel aus dem Mund. Es bestand keine Gefahr mehr, daß er eine Rune sprach.
Die Runensprecher zogen sich zurück, und ihre grauen Kutten verschmolzen mit denen der anderen zu einer Masse.
Ein seltsamer Frieden bemächtigte sich Travis’. Wenigstens mußte er keine Entscheidung mehr treffen, was er nun tun sollte.
Es dauert nicht mehr lange, Max. Dann brenne ich genauso wie du.
»Die Sonne geht unter. Laßt es uns zu Ende bringen.«
Die Stimme war kräftig und reichte sogar in die
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