Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
Trägheit hinein, die den Nullstein umgab, trotzdem klang sie unendlich müde. Travis hob den Kopf und sah zwei Runensprecher, die vorgetreten waren. Der eine war Oragien, dessen weißes Haar und Bart in der trägen Brise wehten. Der andere war Bruder Larad. Die zerschnittenen Züge waren zu einem Ausdruck erstarrt, dessen Leblosigkeit an eine Statue erinnerte.
Travis sah an Larad vorbei, auf der Suche nach einem freundlichen, schlichten Gesicht – aber von Himmel fehlte jede Spur. Doch er entdeckte eine Person, die ein Stück abseits von den anderen stand, als zögerte sie, bei den anderen zu stehen, während diese ihr Werk vollendeten. Travis konnte nicht erkennen, wer es war – die graue Kapuze der Kutte war tief ins Gesicht gezogen –, aber vielleicht teilten ja nicht alle Runensprecher Bruder Larads Meinung.
Oragien stützte sich auf seinen Stab. »Begreift Ihr, für welches Verbrechen Ihr bestraft werdet, Bruder Wilder?«
Bevor Travis antworten konnte, kam ihm eine scharfe Stimme zuvor.
»Er hat den Runenstein entehrt«, sagte Larad verächtlich. »Der Runenstein, das Herz unseres Turms und die Quelle all dessen, was wir sind. Seine Strafe ist entschieden.«
Oragien hielt den Blick auf Travis gerichtet. »Habt Ihr noch etwas zu sagen?«
Wieder kam ihm Larad zuvor. »Er hat schon genug Lügen verbreitet.«
Diesmal brachten dem Runensprecher seine Worte einen scharfen Blick des Großmeisters ein. Der narbengesichtige Mann verstummte, aber sein Blick wich nicht von Travis. Irgendwie schaffte es Travis einzuatmen. Er zwang seine Stimme, die Stille, die über dem Stein hing, zu überwinden.
»Ich habe Euch nur die Wahrheit gesagt, Oragien.«
Die Hände des Großmeisters verfärbten sich weiß, als sie sich um den Stab verkrampften. Oragien kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts. Larad machte eine scharfe Bewegung. Zwei Runensprecher traten vor; jeder hielt eine brennende Fackel. Sie stießen sie in den aufgeschichteten Holzstapel unter Travis’ Füßen.
Instinktiv zwang er seinen Körper, gegen die Seile anzukämpfen, die ihn banden, aber sie waren zu stark, um zerrissen zu werden. In Gedanken schrie er die Rune Shani. Wasser. Aber als seine Lippen das Wort formen wollten, drückte ihn die Aura des Nullsteins wie ein eisernes Gewicht nieder. Rauch wehte in sein Gesicht, brannte in seiner Nase und seinem Hals. Er wandte den Kopf ab …
… und sah Grace Beckett neben dem Nullstein stehen.
Staunen verdrängte die Furcht. Wie konnte Grace hier sein?
Sie sah genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte; sie trug ein violettes Gewand, und ihre grüngoldenen Augen strahlten so hell wie der Sommer. Nur ihr Haar war jetzt länger und umrahmte die feinen, majestätischen Gesichtszüge. Aber sie erschien so blaß, als wäre sie krank, und ihre Miene war vor Entsetzen verzerrt. Warum sprach sie nicht mit ihm?
»Grace!« sagte er, kaum dazu fähig, das Wort hervorzubringen.
Sie blieb stumm. Sein erster Gedanke war, daß er bereits starb, daß dies eine letzte vom Feuer und Rauch hervorgerufene Halluzination war. Aber die Flammen arbeiteten sich durch das Holz nach oben vor, und als er blinzelte, stand sie noch immer da, nur wenige Meter von ihm entfernt.
Aber in Wirklichkeit stand sie gar nicht da. Er sah, daß ihre Gestalt über dem Boden schwebte, und während alle Dinge im Schein der untergehenden Sonne lange Schatten warfen, tat sie dies nicht. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er durch ihren durchscheinenden Körper hindurch die schwachen Umrisse von Felsen sah.
Die Hitze wurde stärker und nahm an seinen Beinen unbehagliche Ausmaße an. Mehr Rauch trieb an seinem Gesicht vorbei und raubte ihm den Atem. Noch wenige Sekunden, und er würde sterben. War Grace auch tot? War sie aus dem Totenreich gekommen, um ihn willkommen zu heißen?
Sie ist nicht tot, Travis. Das ist eine Projektion.
In dieser Sekunde begriff er alles. Es war genauso wie in dem Steinkreis außerhalb von Calavere, als Grace den Dolch des Verschwörers mit einem Zauber belegt und ihren Körper verlassen hatte, um die beiden Mörder dort zu belauschen. Wieso er ihre Visionsgestalt sehen konnte, wußte er nicht. Aber in dem schäbigen Königreich Kelcior hatte es einmal den Anschein gehabt, als hätte ihm seine Revolverheldenbrille dabei geholfen, Auren um Melia, Falken und Beltan zu sehen. War ein Geist nicht so etwas wie eine Aura?
Jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken. Wichtig war nur, daß Grace ihn gesehen
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