Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
irgendwie war sie eingeschlafen – und hatte wieder von Sareth geträumt. Dieser Traum war verworrener als der letzte gewesen. Sie waren beide nackt gewesen, und er hatte sie geliebt. Aber dann hatte sie eine schreckliche Kälte verspürt, und als sie zu Sareth aufschaute, war er kein lebender Mann mehr gewesen, sondern eine Statue aus Stein. Die Kälte drang in ihren Körper ein, und sie wollte schreien. Aber ihre Zunge bestand bereits aus Stein.
Glücklicherweise war sie in diesem Augenblick erwacht. In gewisser Weise war dieser Traum schlimmer gewesen als der mit den goldenen Spinnen. Der Gedanke, die Ewigkeit auf diese Weise zu verbringen – lebendig, sich seiner Umwelt bewusst, aber unweigerlich erstarrt –, bescherte ihr eine Gänsehaut.
Lirith verließ das Gemach und eilte durch das Schloss. Diener und Adlige sahen sie mit weit aufgerissenen Augen an und beeilten sich, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie konnte es ihnen nicht verübeln; sie hatte das Gefühl, in diesem Augenblick wie eine Verrückte auszusehen. Es war Ivalaines Wunsch, dass sich die Hexen auf Ar-Tolor diskret verhielten, um die Schlossbewohner nicht zu verschrecken. Aber sie hatte jetzt keine Zeit mehr und musste die direkte Route in den Garten nehmen. Sie hatte Glück, dass man sie nicht dafür eingeteilt hatte, an diesem Abend eine Gruppe Novizinnen zur Zusammenkunft zu führen. Sie hob den Saum ihres Kleides und beschleunigte ihre Schritte.
»Rennen ist sinnlos«, sagte da eine zischende Stimme. »Ihr kommt trotzdem zu spät.«
Lirith kam rutschend zum Stehen. Neben einem Fenster stand eine schlanke Silhouette.
»Teravian«, sagte sie. »Ich habe Euch gar nicht gesehen.«
»Warum solltet Ihr mich auch sehen? Es tut ja auch sonst keiner.«
Lirith zögerte. Sie hätte mittlerweile beim Hexenzirkel sein müssen. Aber wie zuvor war da etwas an Teravian, vielleicht eine gewisse Traurigkeit, die sie unwillkürlich antworten ließ.
»Vielleicht solltet Ihr in Betracht ziehen, weniger Schwarz zu tragen«, sagte sie.
Der junge Mann blinzelte. »Ich wusste gar nicht, dass Hexen witzig sein können.«
»Oh, ich bin eine besondere Hexe. Vermutlich solltet Ihr gar nicht mit mir sprechen. Zweifellos verursacht das nur alle möglichen irreparablen Schäden.«
Seine Lippen verzogen sich höhnisch. »Gut.«
Lirith schaute zum Fenster; am Himmel zeigten sich die ersten Sterne.
»Schon gut. Ich weiß, dass Ihr zu Eurer kleinen Versammlung müsst, also geht ruhig. Sie geht ja auch immer und lässt mich allein.«
Sämtliche Spuren des Lächelns verschwanden aus seinem Gesicht; es verwandelte sich in ein blasses, grimmiges Oval, das im Zwielicht zu schweben schien. Lirith dachte nur einen Augenblick lang nach, dann trat sie an ihn heran und legte ihm die Hände auf die Schultern. Für einen jungen Mann von sechzehn Wintern war er sehr schlank, und sie hatten ungefähr die gleiche Größe, sodass sie in seine grünen Augen sehen konnte.
»Lord Teravian, hört mir zu. Ihr müsst mir glauben, dass ich weiß, wie das ist, wenn man zurückgelassen wird. Aber in den seitdem vergangenen Jahren habe ich etwas gelernt, von dem ich mir wünschte, es schon damals gewusst zu haben, und das werde ich Euch jetzt verraten. Auch wenn andere Euch vielleicht aufgeben sollten, so dürft Ihr Euch selbst niemals aufgeben. Versteht Ihr?«
Er sagte nichts, aber es hatte den Anschein, als würde sein Blick nachdenklich. Lirith konnte nur hoffen, dass es ausreichte. Sie ließ seine Schultern los.
»Ich muss jetzt gehen – zu meiner kleinen Versammlung, wie Ihr es nennt. Aber ich werde zurückkommen und mit Euch sprechen. Das verspreche ich.«
Er schüttelte den Kopf, sah sie aber nicht an, sondern blickte in die stummen Schatten. »Nein, da irrt Ihr Euch. Ihr werdet bald abreisen.«
Ein kühler Windhauch schien Liriths Haut zu berühren. »Was meint Ihr damit?«
Der junge Prinz zuckte bloß mit den Schultern, dann drehte er sich um und ging den Korridor entlang; sein schwarzes Haar und die dunkle Kleidung verschmolzen mit der Dunkelheit.
Minuten später trat Lirith atemlos durch einen Torbogen aus miteinander verästelten Zweigen in den von Bäumen umgebenen Tempel tief in den Gärten von Ar-Tolor. An den hohen Ästen hingen Kugeln mit Hexenfeuer und erfüllten die Lichtung mit grünem Glanz. Das in ständiger Bewegung befindliche Laubdach erschwerte den Blick auf die silberne’ Mondsichel, die dem unsichtbaren Horizont entgegensank.
Zweihundert Hexen – die
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