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Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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verbracht hatte, sich vor den Schatten zu verstecken – Jahre, die sie auch vom Licht fern gehalten hatten. Aber sie war ihnen als Mädchen entkommen; als erwachsene Frau würde sie das Gleiche tun. Sie hatten ihr einmal das Leben gestohlen. Grace würde es kein zweites Mal zulassen.
    Die Zeit war gekommen, ihre Schatten zu verbannen.
    Sie hob eine Hand, und der Raum brach in helle Flammen aus.
    Der Phantomschatten riss die dürren Arme hoch, er warf den Kopf in einem wortlosen Schmerzensschrei zurück, als sich das Feuer wie ein Leichentuch um ihn legte.
    Grace wich zurück. Die Tür schwang vor ihr zu und dämpfte das Prasseln des Feuers und die menschlichen Schmerzenschreie, ohne sie jedoch ganz zum Verstummen zu bringen. Auf der anderen Seite des Holzes ertönte ein hektisches Schaben. Grace sah den Türknauf an, und er zerschmolz zu einem formlosen Klumpen. Die Tür erbebte, aber sie öffnete sich nicht. Statt silbernem Licht drang schwarzer Rauch unter der Tür hervor.
    Langsam und ganz ruhig ging Grace den Korridor entlang. Flammen folgten ihrem Weg, züngelten die Wände hinauf, tanzten wie fröhliche blaue Geister über die Decke und verschlangen Holz und Schatten gleichermaßen. Grace blieb stehen, um den Hebel für Feueralarm an der Wand zu betätigen. Sofort zerriss ein schriller Ton die Luft. Die anderen Kinder – Sarah, Nela, Lisbeth, Mattie und der Rest – würden die nötige Zeit zur Flucht haben. Aber nur die Kinder.
    Der ganze Korridor brannte. Die letzten Flecken des Schattens rollten sich zusammen wie schwarz verkohltes Papier, und doch wichen die Flammen vor Grace zurück wie ein funkelnder Vorhang. Aber es war ihr Feuer, nicht wahr? Sie hatte es gerufen, und es war gekommen: der erste richtige Zauber einer dreizehnjährigen Hexe.
    Grace schritt die brennenden Stufen hinunter und ließ den Schatten und die Schreie hinter sich zurück.

35
    Travis drückte gegen das Tor, von dem die Farbe abblätterte. Rostige Türangeln quietschten, und das Tor schwang mühsam nach innen auf; weiße Farbe blätterte toten Hautschuppen gleich ab. Er trat hindurch und betrat den unkrautüberwucherten Weg. Trauerweiden raschelten, als er sie passierte, und das Haus schimmerte in der purpurfarbenen Abenddämmerung des Himmels über Illinois, als bestünde es aus Gebeinen.
    Warum war er hergekommen? Er war nie an diesen Ort zurückgekehrt, nicht seit dem heißen Tag, an dem er zwanzig geworden war, an dem er das Farmhaus, in dem er geboren worden war, verlassen, das Gesicht nach Westen gewandt und nie zurückgeblickt hatte.
    Aber das stimmt doch gar nicht. Du hast zurückgeblickt. Du hast jeden Tag zurückgeblickt.
    Und jetzt war er wieder hier. Aber wieso? Er war in …
    Aber es fiel so schwer, sich daran zu erinnern, wo er gewesen war. Es war kaum mehr als ein verschwommener Schemen, als hätte alles, das er seit dem Verlassen dieses Ortes erlebt hatte, keinerlei Bedeutung, verglichen mit dem, was sich innerhalb dieser verblichenen Wände zugetragen hatte. Da war ein Schatten gewesen, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Aber vielleicht spielte das ja keine Rolle mehr. Vielleicht spielte nur noch eine Rolle, dass er zurückgekehrt war.
    Travis ging an dem Garten vorbei – dem Garten seiner Mutter. In seiner Erinnerung war er so ordentlich wie ihre Küche, alles befand sich an dem Ort, wo es hingehörte. Jetzt war er ein Wirrwarr aus Geißblatt, Waldreben und wilden Zinnien. Zwischen den Blättern leuchteten ein paar Glühwürmchen. Sie verbreiteten nur ein kränkliches Licht, ihre Zeit war so gut wie abgelaufen.
    Genau wie deine auch. Warum sonst solltest du an diesen Ort zurückkehren, wenn es nicht das Ende wäre?
    Er erreichte die Stufen zur Veranda, fing an, das verrottete Holz emporzusteigen, und zögerte. Er konnte da nicht reingehen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Er drehte sich um und ging um das Haus herum zum Hinterhof.
    Er war sogar noch verwilderter als die Vorderseite, ein Dschungel aus Disteln, Goldrute und Mehltau. In der schwülen Luft schwebte weißer Löwenzahnsamen, trieb in alle Richtungen dahin, ohne jemals einen Platz zu finden, an dem er sich niederlassen und Wurzeln schlagen konnte. Mit dem Sich-treiben-Lassen kannte sich Travis aus. Hatte er nicht genau das ununterbrochen getan, seit er dieses Haus verlassen hatte? Nach einem Ort gesucht, den er sein Eigen nennen konnte?
    »Ich schätze, du hast ihn nie gefunden«, murmelte er. »Denn wenn du es getan hättest, warum solltest du

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