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Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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Lebensfaden hängt. Das ist er, das ist sein Herz. Er ist in deinem Inneren. Und du bist in ihm.
    Sie wollte sich umdrehen, die Treppe hinunterlaufen, nach draußen rennen in das kalte Licht der Sterne in den Bergen. Stattdessen packte sie das Geländer und stellte den Fuß auf die erste Stufe.
    Silbernes Licht blitzte auf und wogte wie lebendig gewordener Nebel die Treppe hinunter. Jetzt konnte sie es hören, wie es in der Luft um sie herum und im Holz unter ihren Füßen vibrierte. Hitze stieg in ihr auf.
    Nein, es ist noch zu früh für das Feuer. Das war, nachdem du wieder hinuntergekommen bist, nachdem du oben etwas gesehen hattest. Du musst dort hinaufgehen, du musst dich erinnern …
    Die Hitze zog sich zurück. Ihre Hand glitt das glatte Holz des Geländers hinauf, ihr Fuß machte einen weiteren Schritt, und dann noch einen. Das silberne Licht wand sich um ihre nackten Knöchel; es fühlte sich kühl an.
    Ihre Augen erreichten die Höhe des oben befindlichen Korridors, das Licht wurde heller. Sie zögerte, aber kein Alarm ertönte, auch nicht Mrs. Brouds durch Mark und Bein dringendes Brüllen, weil sie sie bei der Verletzung der Regeln erwischt hatte. Grace holte tief Luft, dann rannte sie mit fünf schnellen Schritten den Rest der Treppe hinauf bis oben hin.
    Sie stand am einen Ende eines langen Korridors, der die zweite Etage des Waisenhauses in seiner ganzen Länge durchmaß. Schwacher Lichtschein floss lautlos über die abgetretenen Bodenfliesen. Er strömte unter einer Tür am anderen Ende des Korridors hervor.
    Das war ihr Ziel.
    Das Summen war lauter geworden; es ließ ihren Kiefer schmerzen. Ihre nackten Füße verursachten keinen Laut, sie ging an geschlossenen Türen vorbei auf die mit dem grellweißen Strich unter ihrer Schwelle zu. Sie war auf der Mitte des Korridors, als sie es hörte – ein leises Geräusch, das abwechselnd anschwoll und wieder fiel. Es erinnerte sie an Gesang. Nur dass es sich nicht um Gesang handelte. Dem Laut fehlte jede Musik.
    Grace blieb vor der Tür stehen. Das Summen erfüllte nun ihren ganzen Körper und versuchte ihn wie ein Stück Glas zum Zerspringen zu bringen. Sie glaubte, Worte in dem Singsang ausmachen zu können – Worte, die am Rand ihres Verstehens entlang tanzten, so als hätte sie sie vor langer Zeit einmal gehört. Vielleicht in einer Geschichte. Oder einem Lied.
    Grace legte den Kopf schief und hörte zu. Dann wurden die Stimmen lauter, und ein neuer Laut ertönte hinter der Tür, ein feuchtes Stöhnen voller Schmerz, das schnell erstickt wurde. Einen Augenblick später ertönte ein Krachen, als etwas Hartes zerbrochen wurde.
    Öffne die Tür, Grace.
    Sie zögerte, dann streckte sie die Hand aus und nahm den Türknauf.
    Tu es jetzt!
    Die Tür war abgeschlossen, aber irgendwie schien das keine Rolle zu spielen. Unter ihren Fingern zerfloss Metall und verfestigte sich wieder in neuer Form. Die Tür flog auf. Silberlicht schoss in einer Woge heraus, und einen Augenblick lang sah Grace alles.
    Sie standen in einem Halbkreis in dem engen Raum, sieben Erwachsene – bis auf eine Person das gesamte Personal des Waisenhauses. Sie trugen schwarze Masken, so, wie sie es immer taten, wenn sie eines der Kinder holten, aber es hatte den Anschein, als würden leuchtende grüne Fäden die Züge ihrer Gesichter nachzeichnen. Wenn Grace die Augen zusammenkniff, konnte sie direkt durch die Vermummung hindurchsehen.
    Da war Mr. Murtaugh, der Hausmeister, der sie außer sich vor Wut anstarrte, und Mrs. Murtaugh neben ihm, und der Ausdruck von Lust auf ihrem Gesicht verzerrte sich zu nacktem Entsetzen. Broud und alle Aufseherinnen waren da, und in ihrer Mitte stand Mr. Holiday, dessen Miene selbst voller Erstaunen noch immer attraktiv aussah.
    Hinter den Erwachsenen hing ein schwarzes Tuch an der Wand, das mit silbernen Zeichnungen übersät war. Die Zeichnungen kamen Grace irgendwie vertraut vor, auch wenn sie nicht zu sagen vermocht hätte, wo sie sie gesehen hatte. Aus ihnen stach vor allem ein einziges, starrendes Auge hervor. Das Auge befand sich in der Mitte eines vage menschlichen Gesichts, das rasiermesserscharfe Zähne zu einem schrecklichen Grinsen entblößte. Wer auch immer das Ding in der Zeichnung sein sollte, es war ein Ding voller Hunger und Hass.
    Ihr Blick kehrte zu den Erwachsenen zurück. Auf einer Chaiselongue vor ihnen lag Mrs. Fulch.
    Die Köchin regte sich nicht, ihr leerer Blick starrte in die Höhe. Sie hatten ihr die scheußliche graue Bluse

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