Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
Vom Netzwerk:
dann zurückkehren?«
    Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als würde das Fragment einer Erinnerung in der Dunkelheit seines Verstandes aufleuchten: ein Ort, an dem er sich niedergelassen hatte. Nein, kein Ort. Ein Tal. Dann war der Schatten da und verdeckte die Erinnerung.
    Auf der Rückseite sah das Haus noch reparaturbedürftiger aus. Die Hälfte der Schlagläden waren von den Fenstern gefallen, die Dachrinnen waren durchgesackt, an den Wänden schälten sich einige der Verschalungsbretter ab. Warum hatten sie das Haus nicht in Ordnung gehalten?
    Weil sie tot sind, schon vergessen? Sie sind tot, und du bist nicht einmal für die Beerdigung zurückgekehrt.
    Der Brief ihres Pastors hatte irgendwie den Weg zu ihm gefunden und ihn über ihren Tod informiert. Travis wusste nicht mehr genau, was in dem Brief gestanden hatte. Irgendetwas über Krebs, wie er zu weit fortgeschritten war, als man ihn gefunden hatte, und wie sein Vater keine zwei Monate später durch einen Schlaganfall gefolgt war. Er erinnerte sich nur an die letzte Zeile.
    Gott segne sie beide, denn sie sind endlich wieder mit ihrer geliebten Alice vereint.
    Travis fröstelte.
    Die Bäume flüsterten ihren Namen, das Unkraut warf ihn als Echo zurück, die Glühwürmchen blitzten schwach auf. Also darum war er an diesen Ort zurückgekehrt. Nicht wegen ihnen, sondern wegen Alice.
    Sein Blick fand ihn im Zwielicht, ein niedriger Hügel, der mit Wicken bewachsen war. Sie hatten sie direkt hinter dem Haus begraben. Nicht in der Mitte des Hofes, sondern an der Seite, wo sie genau gewusst haben mussten, dass er es von seinem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte: die ständige Erinnerung an das, was er getan hatte.
    Töten ist eine schreckliche Sünde.
    Das war die Stimme seines Vaters, sie war heiser und bebte. Travis hatte auf dem oberen Treppenabsatz gekauert und gelauscht, obwohl er es nicht hätte tun sollen.
    Nicht, wenn es ein Unfall ist, Mr. Wilder. Das war die Stimme des Pastors gewesen. Trocken, aber nicht unfreundlich.
    Ja, ein Unfall. Seine Mutter, ihre Worte waren so fadenscheinig gewesen wie die Vorhänge am Küchenfenster. Ein Unfall kann keine Sünde sein.
    Wieder sein Vater, der jetzt leiser sprach. War es das wirklich? Er war eifersüchtig auf sie. Er ist immer ein Idiot gewesen. Und sie war so perfekt, so klug …
    Ein warmer Wind brachte die Nacht heran, enthüllte die stummen Sterne am Himmel und wehte die Worte fort.
    Aber es war ein Unfall gewesen. Er hatte Alice mehr als alles andere auf der Welt geliebt – ihre piepsige Stimme, ihre fröhlichen blauen Augen. Er hätte alles für sie getan. Aber sie war krank gewesen, sie hatten ihn zurückgelassen, um sich um sie zu kümmern. Aber die Zahlen auf dem Pillenfläschchen hatten so getanzt, so wie sie es immer taten. Er hatte sie durcheinander gebracht, ihr viel zu viele Pillen gegeben. Viel zu viele.
    Ein gelbes Leuchten berührte seine Wange. Er schaute auf. Das Farmhaus war dunkel und still – bis auf ein Fenster im oberen Stockwerk. Jemand hatte das Licht eingeschaltet, oben in ihrem alten Zimmer.
    Bevor er richtig darüber nachdenken konnte, griff er nach der Küchentür. Sie war unverschlossen. Er stieß sie auf, betrat das Haus.
    Dunkle, staubige Luft hüllte ihn ein. Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie hier gelebt hatten? Er wusste es nicht. Es roch nach einer langen Zeit. Das Sehen fiel schwer, durch die Vorhänge fiel nur matter Sternenglanz. Dann ging Travis weiter hinein und entdeckte den schwachen Lichtschein, der die Treppe hinunterfiel.
    Er ertastete sich seinen Weg zu den Stufen, dann stieg er zu dem Korridor im ersten Stock hinauf. Alle Türen bis auf eine waren verschlossen. Jenseits der Schwelle leuchtete kaltes Licht. Es zog Travis an, über den staubigen, verschlissenen Teppich, entlang der schimmeligen Wandtapete. Vor der Tür zögerte er und fragte sich, was ihn dort wohl erwartete, dann trat er über die Schwelle.
    Es dauerte einen Augenblick lang, bis er vollständig begriff, was er da sah, dann lachte er – auch wenn es ein bitterer Laut war. Hatten sie das als ihre letzte Tat getan – hatten sie das für ihn hinterlassen für den Tag, an dem er endlich zurückkehrte?
    Es spielte keine Rolle. Nur eines war wichtig: dass er endlich wusste, was er tun sollte.
    Ihr Zimmer war genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Auf den weißen Regalbrettern drängten sich Bücher und Stofftiere, auf einem kleinen weißen Schreibtisch stapelten sich noch mehr

Weitere Kostenlose Bücher