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Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt

Titel: Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Mark
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erfahren. Es wird dich stark machen, mein kleiner Prinz, hatte sie ihn dann beschwichtigt. Aber er hatte sie geliebt und immer gehorcht, und wenn ihn die Tränke krank gemacht hatten, hatte sie seinen Kopf auf ihren Schoß gebettet, ihm das Haar gestreichelt und ihm Vorgesungen, bis er eingeschlafen war.
    Dann hatte sich Elire im Sommer seines siebten Jahres ein Fieber geholt, und obwohl sie für jeden derart erkrankten Dorfbewohner einen Kräutertrank zubereitet hätte, hatte es niemanden gegeben, der das für sie getan hatte. Trotz allem, was sie für das Dorf getan hatte, hatte keiner auch nur eine Hand gerührt, um die Hexe zu begraben. Also hatte Beltan ihr ihr grünes Lieblingshalstuch zwischen die kalten Hände geschoben und ihre kalte Wange geküsst. Dann hatte er das kleine Holzhaus, in dem sie gelebt hatten, mit der Lampe entzündet und zugesehen, wie es niederbrannte.
    Beldreas’ Ehre – wenn nicht sogar seine Zuneigung – hatte nicht zugelassen, dass sein einziges Kind, ob es nun ein Bastard war oder nicht, als Bettler in einem Provinzdorf leben musste, also hatte er seinen Seneschall Lord Alerain losgeschickt, um Beltan nach Schloss Calavere zu holen. Beltan hatte Beldreas und sein neues Heim schnell lieben gelernt. Aber er hatte seine Mutter niemals vergessen, genauso wenig wie die Tatsache, wie ihre Hexenkunst sie am Ende verraten hatte – und Beltan war seitdem der festen Überzeugung, dass es eine heimtückische Kunst war.
    Andererseits war Lady Grace Beckett eine Hexe. Und vielleicht lag es an den Kräutertränken, die ihm seine Mutter als Kind zu trinken gegeben hatte, dass er ihnen jetzt einen gewissen Widerstand entgegenbringen konnte. Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde der Raum deutlicher. Er konnte die flache Decke sehen und das seltsame, blauweiße Licht. Auf der anderen Seite des Raumes konnte er einen Schatten ausmachen; die Gestalt war schlank und saß an einem Tisch, den Kopf über etwas in ihrer Hand gebeugt.
    Es war gut, dass er den Schrei nicht hatte ausstoßen können. So wusste sie nicht, dass er hören konnte, dass er ihre Worte irgendwie verstehen konnte – oder zumindest einen Teil davon, denn vieles, was sie sagte, klang wie die Worte eines Hexenzaubers.
    Wieder ertönte das Klicken. Sie sprach leise weiter.
    »Persönliche Notiz. Wir wissen, dass das Objekt genetisch gesehen ein völlig normales menschliches Wesen darstellt. Die Resultate der phylogenetischen Analyse, die auf der DNA-Sequenzierung beruhen, sind gestern zurückgekommen, und der kargste Baum deutet auf eine Abzweigung von nordeuropäischen Populationen von vor fünftausend Jahren vor der Jetztzeit hin, mit einer Fehlerspanne von eintausend Jahren.
    Meine Vorfahren kamen aus Norwegen. In gewisser Weise könnte man wohl sagen, dass wir eine Art Vettern sind. Doch selbst mit dem Wissen, wie nahe er uns steht, hat er etwas Rohes an sich, das ich fremdartig und beunruhigend finde. Ob die Wikinger wohl so waren, die, die sich ihren Weg durch Europa gebrandschatzt und vergewaltigt haben?
    Das Hauptquartier sagt, dass der Zivilisationslevel der Eingeborenen mittelalterlich ist, entsprechend etwa dem elften Jahrhundert, mit einem technologisch-spezifischen Unterschied plus oder minus zweier Jahrhunderte. Ich finde es noch immer erstaunlich, dass die Entwicklung derart parallel zur Erde stattfinden konnte, nur eben tausend Jahre hinterherhinkt. Aber das ist das, was uns unsere Geschichtswissenschaftler schon immer gepredigt haben: Menschen sind Menschen. Bevölkerungsdichte und Wahrscheinlichkeitstheorie sind die bestimmenden Faktoren, nicht der Wille des Einzelnen. Vielleicht haben die Leute in der Chefetage ja Recht. Vielleicht haben wir ja doch einen von Gott erteilten Auftrag, den Unterentwickelten die Zivilisation zu bringen.
    Wie dem auch sei, dort muss eine sehr gewalttätige Periode stattfinden. Das Objekt kann nicht mit uns sprechen, aber die Narben und die vielfältigen Verletzungen der Knochen erzählen eine Geschichte der Brutalität. Ich weiß, dass diese Hypothese nicht besonders wissenschaftlich ist, aber ich bin der festen Überzeugung, dass er, wäre er wach und nicht fixiert, mich mit bloßen Händen töten würde.«
    Schweigen.
    »Doktor Ananda M. Larsen. Ende der Aufnahme.«
    Ein Seufzen, dann rutschende Geräusche, ein Stuhl, der zurückgeschoben wurde. Der Schatten erhob sich.
    Beltan schloss die Lider. Das war die erste Regel eines Kriegsgefangenen. Überzeuge die

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