Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
erstochen, als er nicht hinsah. War es nicht das, wo Liebe am Ende immer hinführte – zu Qualen, Verrat, Tod?
Nein, es ist nicht dasselbe. Ich will Travis Wilder nur noch ein einziges Mal gegenübertreten. Das ist alles. Ich will ihm bloß sagen, dass es mir Leid tut.
Aber er würde die Chance nicht bekommen. Lady Kyrene würde ihm das Herz rausschneiden. Und vielleicht war das auch besser so. Vielleicht war es besser, sich das Ding entfernen zu lassen, statt noch jemanden zu vernichten, der seine Liebe unmöglich erwidern konnte.
Trotzdem; etwas stimmte hier nicht. Er hatte Kyrene sterben sehen. Und es war hier zu hell, als dass es die Gruft unter dem Schloss seines Vaters hätte sein können. Das Grau löste sich zu einem harten, leblosen Weiß auf.
Ein metallisches Klicken ertönte, gefolgt von einer Stimme, die durch die Luft hallte, eine Frauenstimme, die jedoch seltsam scharf und guttural klang.
»Objekt E-2, medizinisches Tagebuch. Siebter Oktober, Kassette zwei. Testresultate und zusätzliche Blut- und Gewebeproben sind zwecks Analyse und Verifizierung ans Hauptquartier geschickt worden; wir warten auf die Anweisung, wie wir weiter vorgehen sollen.
Ich hatte seit gestern die Zeit, die Überwachungsbänder zu studieren, und ich bin jetzt davon überzeugt, dass der Eingeborene kein Englisch spricht. Die Sprache des Objekts ist auf der Audiospur des Bandes nicht zu verstehen. Die logische Erklärung hierfür besteht darin, dass ich, von seinem plötzlichen Erwachen überrascht, zu den von dem Objekt geäußerten Lauten Worte projiziert habe. Ich hatte eine Sechsunddreißig-Stunden-Schicht hinter mir, und auch wenn einen die Medikamente weitermachen lassen, haben auch sie ihre Grenzen und Nebenwirkungen. Aber seit gestern konnte ich sieben Stunden richtig schlafen.
Dennoch habe ich das Band auf die Chance hin, dass die vom Objekt geäußerten Laute doch Eingeborenensprache darstellen, ins Hauptquartier geschickt, damit es dort digitalisiert und ein Vergleich mit dem bis jetzt bekannten Wortschatz durchgeführt wird. Doch ich bezweifle, dass sie Übereinstimmungen finden werden. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass das Objekt gar nicht in einer Sprache gesprochen hat, sondern lediglich Schmerz- und Furchtlaute von sich gegeben hat. In der Zwischenzeit halten wir Objekt E-2 aus Sicherheitsgründen sediert, und zwar auf der höchsten noch sicheren Stufe. Nach so langer Bewegungsunfähigkeit war die Stärke, die er zeigte, trotz des Erfolgs der Behandlung mit dem alternativen Blutserum … überraschend. Wir werden ihn aufwecken, wenn wir die nötigen Instruktionen erhalten, hoffentlich morgen. Ende des Eintrags.«
Das Licht wurde heller, verfestigte sich zu Umrissen.
Aber ich bin wach, Hexe!, wollte er rufen, aber sein Mund wollte sich nicht öffnen. Sie hatte gedacht, ihr Gift würde ihn bis morgen schlafen lassen, aber das hatte es nicht. Schon einmal hatte eine Hexe ihn unterschätzt. Kyrene. So hatte er sich von dem Stein erhoben, sie niederwerfen und in Brand stecken können.
Wie kam es, dass er sich nun schon zum zweiten Mal stärker als ein Hexenzauber erwies? Er war sich nicht sicher, aber Elire, seine Mutter, war auf gewisse Weise ebenfalls eine Hexe gewesen.
Als junger Mann war Beldreas vor seiner Krönung zum König zur Hirschjagd in das Marschland des westlichen Calavan geritten, und dort war er im Dorf Berent Elire begegnet. Ihre grünen Augen hatten ihn in ihr Bett gelockt. Doch als er dann am nächsten Tag erfahren hatte, dass die anderen Dorfbewohner Elire als die örtliche Weise Frau betrachteten, hatte er einen Wutanfall bekommen. Die Anhänger von Vathris hatten noch nie viel von den Hexen gehalten, und Beldreas war ein Krieger bis ins Mark gewesen.
Er hatte sie auf der Dorfwiese gefunden und hätte sie in seiner Wut niedergeschlagen, hätte sie ihm nicht gesagt, dass sein Bastardsohn bereits in ihrem Leib heranwuchs. So jung und heißblütig Beldreas auch gewesen war, hätte nicht einmal er einer schwangeren Frau geschadet – einer Frau, die sein Kind trug.
Aber sie war für ihn eine Hexe geblieben, und Beldreas hatte nichts mit ihr zu tun haben wollen. Er war zurück nach Calavere geritten, und Beltan hatte die ersten sieben Jahre seines Lebens zusammen mit seiner Mutter in Berent verbracht. Sie hatte ihn oft bitter schmeckende Tees trinken oder ihn schrecklich schmeckende Wurzeln essen lassen, nach denen er sich hatte übergeben müssen. Er hatte nie den Grund dafür
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