Die letzte Rune 06 - Die sterbende Stadt
Etherion auftauchen. Vani holte das Obsidian-Artefakt aus einem Beutel und stellte es auf die Mitte der breiten Balkonbrüstung. Das Prisma saß noch immer schräg.
Sareth reichte Vani Kerzen und ein kleines Säckchen mit Kräutern. Sie würden den Reinigungszauber durchführen. Zwei Minuten, vielleicht drei – mehr blieben Travis nicht, bevor er sich in den Untergrund der Stadt begab. Als Sareth dem Dämon begegnet war, hatte er sowohl seinen besten Freund als auch sein Bein verloren. Was würde Travis verlieren? Vielleicht alles.
Sein Blick glitt über den Balkon zu einer hoch gewachsenen, geschmeidigen Gestalt. Beltan. Der blonde Ritter schaute in die Weite der Etherion und hielt sich mit beiden Händen an dem Steingeländer fest. Der Ritter sah gesund und stark aus. Trotzdem schien eine Wolke über ihm zu hängen, die sein Licht dämpfte, und wieder einmal fragte Travis sich, was Duratek ihm angetan hatte.
Sie wollten mich zu einem Mörder machen, hatte Beltan gesagt. Vermutlich wussten sie nicht, dass ich schon einer bin.
Bezogen sich diese Worte auf das Verbrechen, von dem Beltan vergangene Nacht gesprochen hatte? Aber was auch immer der Nekromant gesagt hatte, es musste eine Lüge sein. Beltan war gut, freundlich und tapfer; er hatte nicht die Macht zu vernichten. Im Gegensatz zu Travis.
Ich bin das Ungeheuer, Beltan. Nicht du. Ich bin derjenige, der angeblich Eldh zerstören wird. Das hat der Drache Sifthrisir gesagt. Und Grace hat gesagt, dass die Hexen es ebenfalls glauben.
Travis setzte sich in Bewegung, um zu Beltan zu gehen, blieb aber stehen, als hinter ihm eine leise Stimme ertönte.
»Du kannst ihn sehen, nicht wahr? Seinen Schatten.«
Travis drehte sich zu Grace um. »Was?«
Ihre Aufmerksamkeit war auf den großen Ritter gerichtet. »Das erste Mal habe ich es auf der Reise nach Spardis gesehen, dann noch einmal, als ich unsere Lebensfäden miteinander verband. Er hat genau wie ich einen Schatten. So wie wir alle.«
Er sah sie fragend an, und sie erwiderte seinen Blick.
»Heute Morgen, auf dem Weg in die Stadt, habe ich die Gabe benutzt, um mir deinen Lebensfaden anzusehen. Deinen und die der anderen. Sogar die von Melia und Falken. Es gibt sie nicht nur bei Beltan und mir. Bei einigen sind sie größer, bei einigen kleiner. Aber wir alle tragen Schatten in uns.«
Travis verstand. Sie alle wurden von Geistern heimgesucht. Er seufzte. Ich liebe dich, Alice.
Einen Augenblick lang war er beinahe wieder da, in dem stillen Farmhaus in Illinois, wo seine Schwester gestorben war. Dann verschwand das Bild wieder, und er sah, wie Grace ihn musterte.
»Liebst du ihn?«
Die Frage war ganz sachlich, wie die einer Ärztin, die ihn fragte, ob er Schmerzen in der Brust habe, während sie seinen Puls fühlte.
»Ja«, sagte Travis, überrascht von der Sicherheit in seiner Stimme. »Grace, ich habe mein Leben lang nichts auf die Reihe gekriegt. Die Hälfte der Zeit kann ich nicht mal rechts von links unterscheiden. Aber ich liebe Beltan. Das weiß ich.«
Graces Blick schien ihn durchbohren zu wollen. »Warum bist du dann jetzt nicht bei ihm?«
Travis öffnete den Mund, aber er brachte kein Wort hervor. Genau wie in der vergangenen Nacht hielt ihn etwas zurück. Aber was?
»Vani«, sagte Grace.
Erst als sie den Namen aussprach, wurde er sich bewusst, dass er nicht länger Beltan ansah, sondern die Meuchelmörderin. Als hätte sie etwas gespürt, schaute sie mit den goldenen Augen auf. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das Artefakt.
»Was geht hier vor, Grace?« Es war eher ein Krächzen als eine Frage.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht …« Grace holt tief Luft. »In dem Hotelzimmer in Denver, da hat Vani mich nach dir und Beltan gefragt. Sie hat mich gefragt, ob du ihn liebst. Als ich das bejahte, schien sie … am Boden zerstört.«
Begreifen stieg in Travis auf, begleitet von einem Gefühl starken Unbehagens. »Vergangene Nacht, als Sareth von seinem Freund sprach, diesem Xemeth – der, der gestorben ist – es war klar, dass Xemeth sie geliebt hat. Aber Vani hat die Karten erwähnt, etwas, das sie ihr gesagt haben.«
Grace schien darüber nachzudenken. »Die Morindai glauben an das Schicksal, Travis. Vielleicht haben ihr die Karten gesagt, wen sie zu lieben bestimmt ist, und vielleicht war es nicht Xemeth. Vielleicht …«
Nein, das wollte er nicht hören. Beltan liebte ihn, und er liebte den Ritter. Das war die eine Sache, derer er sich endlich in diesem so komplizierten Leben
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