Die letzte Rune 07 - Die schwarzen Ritter
dass der Weg einst offen stand, aber wenn das stimmt, ist er seit langem wieder geschlossen. Jetzt gibt es dort nur den Großen Westwald, der sich über tausend Meilen erstreckt. Und wenn man den Geschichten glauben will, lauern in diesem Wald seltsame Dinge. Alte Dinge. Doch wenn man bis nach Westen reist, heißt es, dass man ein Königreich findet, in dem alle Straßen mit Silber gepflastert sind und Kinder mit Spielsachen aus Gold und Juwelen spielen. Wenn ich einen Seeweg dorthin finden und eine Handelsroute eröffnen könnte, wäre ich …«
Seine Worte endeten in einem Seufzen. Eine Zeit lang sahen sie zu, wie das Meer seine Farbe veränderte und aus Kupfer ein rauchiges Amethyst wurde.
»Ich hoffe, es gelingt Euch«, sagte Grace leise. »Eines Tages einen Weg in Euer goldenes Königreich zu finden.«
Magards Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. »Und was sollte ich mit einem Königreich voller Silber und Juwelen anfangen? Ich habe alles, was ich brauche, gleich hier.«
Er zeigte auf das Meer. Auf seiner Oberfläche spiegelten sich zahllose Sterne wie Diamanten auf schwarzer Seide. Grace lächelte, dann drehte sie sich um und suchte sich stolpernd einen Weg zurück in ihre Kabine.
Die folgenden Tage waren friedlich, wenn nicht sogar recht angenehm, auch wenn sie in ihrer völligen Gleichheit miteinander zu verschmelzen schienen.
Grace stand jeden Morgen früh auf. Nicht, dass es für sie etwas zu tun gab. Es war nur so, dass zwischen dem Rollen des Schiffs und dem ständigen Schaben der Ratten im Rumpf Schlaf so gut wie unmöglich zu finden war. Diese Tatsache schien Beltan und Falken nicht davon abzuhalten, die meiste Zeit liegend in ihrer Kabine zu verbringen – aber beide kamen schnell genug an Deck gestolpert, wenn das Horn den Ausschank der täglichen Ration Bier verkündete.
Zusätzlich zu dem großzügigen Schluck Bier gab Magard jeder an Bord befindlichen Person jeden Tag eine halbe Zitrone zu essen. Anscheinend kannte der Kapitän die Gefahren von Skorbut und wie man ihn abwenden konnte. Grace fragte sich unwillkürlich, ob das nicht etwas mit dem häufigen Übergeben zu tun hatte. Zu ihrer Überraschung waren nicht alle von Magards Matrosen gegen die Seekrankheit immun. Wenn der Gestank zu schlimm wurde, begab sich Grace in den Frachtraum und atmete den Duft ein, der aus den Kisten mit Gewürzen emporstieg, und ließ sich von dem aromatischen Geruch den Kopf klären, bis sie sich bereit fühlte, wieder an Deck zu gehen.
Obwohl sie eine Kabine teilten, unterhielt sich Grace nur wenig mit Vani. Die Mournisch erschien und verschwand ohne Vorwarnung. Magards Schiff war nicht groß; es verfügte nur über zwei Masten und maß kaum mehr als dreißig Meter von einem Ende zum anderen. Trotzdem verschwand Vani oft stundenlang, und an einem Tag bekam Grace sie zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang überhaupt nicht zu Gesicht.
Wenn sie sie dann sah, hockte Vani in gefährlicher Höhe in der Schiffstakelage, beschattete mit einer Hand die Augen und spähte in die Ferne. Einmal wurde Grace Zeugin, wie sie mit einem Fuß auf der obersten Rah des hinteren Mastes balancierte und mit der Schiffsbewegung hin- und herschwankte, so als würde sie tanzen. Diese Tat rief bei Magards Mannschaft Flüche und staunende Blicke hervor, und danach starrten die Männer Vani immer an, wenn sie vorbeiging. Aber die Meuchelmörderin schien sie nicht zu bemerken.
Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen Grace Vani in der Kabine vorfand, meditierte die Mournisch für gewöhnlich, die Beine überkreuzt, die Hände auf den Knien, die goldenen Augen zur Hälfte geschlossen. Grace wusste, dass Vani trotz ihrer entspannten Position sich allem in ihrer Nähe bewusst war und in der Spanne zwischen zwei Herzschlägen zum Kampf bereit aufspringen konnte.
Was sie eines Tages auch tat, als Grace die Kabine betrat. Die See war sehr unruhig, und Grace war zu dem Entschluss gekommen, den Versuch aufzugeben, aufrecht an Deck stehen bleiben zu wollen. Das Brausen der Wellen musste ihre stolpernden Schritte sogar vor Vanis scharfen Ohren verborgen haben, denn als sie durch die Kabinentür trat, schaute die Meuchelmörderin nicht von ihrer Position am Boden auf. Dann sah Grace die einzelne T’hot -Karte, die vor ihr lag. Auf der Karte war das Bild eines Mannes. Er hatte durchdringende graue Augen und wurde von blauen Lichtstrahlen umgeben.
»Vani …«, sagte Grace.
Vani war mit einer Bewegung, die schneller vonstatten ging, als
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