Die letzte Rune 08 - Das Schwert von Malachor
ihr zugehört habt. Alles, was ihr jemals haben könnt, ist bereits in euch – sei es Liebe oder Furcht, Lachen oder Trauer, Wahnsinn oder Frieden. Sie sind in eurem Blut. Sie werden mit euch geboren, und sie werden mit euch sterben. Ganz egal, was das Leben austeilt, keiner kann euch diese Möglichkeiten nehmen.« Bruder Cys Grinsen verschwand, und überrascht wurde Travis klar, dass der Prediger ihn anstarrte. »Und das ist die Wahrheit.«
»Der Wind!«, rief Schwester Mirrim mit leerem Blick. »Der Wind verändert die Richtung. Ich kann es sehen!«
In diesem Augenblick jagte eine Böe die Elk Street entlang. Staubteufel erwachten zu knirschendem Leben. Die Leute drehten sich um und eilten fort; sie hielten ihre Hüte oder einander fest, und dann – so als hätte der Wind sie alle fortgeweht – waren sie verschwunden. Travis stand allein vor dem Wagen.
Er blinzelte, damit sich seine brennenden Augen wieder klärten. Das Kind Samanda und Schwester Mirrim waren verschwunden; sie mussten sich in den Wagen zurückgezogen haben. Bruder Cy stand wie ein krummer Pfahl da und beobachtete ihn.
»Wer sind Sie?«, fragte Travis. Aber kannte er nicht bereits die Antwort auf diese Frage? Er trat einen Schritt näher heran. »Ihr seid welche der Alten Götter, nicht wahr? Die, die geholfen haben, Mohg jenseits des Kreises von Eldh gefangen zu setzen. Nur, dass ihr mit ihm gefangen gesetzt wurdet.«
In die schwarzen Augen des Predigers trat ein trauriger Ausdruck, trotzdem lächelte er. »Es spielt keine Rolle, wer wir sind, mein Sohn. Nur eines ist wichtig: Was du sein wirst.«
Travis gab nicht auf. »Aber wie seid ihr hergekommen?«
»Ein Weg ist geöffnet worden. Die Welt wurde gespalten.«
»Wovon sprechen Sie da?«
Bruder Cy legte die spinnenhaften Hände aneinander. »Zwei Dinge können nicht am selben Ort sein, mein Sohn, das weißt du. Ihm ist nur diese Möglichkeit eingefallen: eine Öffnung zu schaffen, einem von ihnen beiden eine Richtung zum Rückzug zu zeigen. Die Steine sind mächtig, aber sie sind nicht besonders klug, wenn du weißt, was ich meine.«
Travis griff in die Tasche und berührte den glatten Umriss Sinfathisars. Als sein Sinfathisar Jacks Stein berührt hatte, hatte er es gespürt; es war wie Gewitterdonner in der Ferne gewesen. Hatten Melia und Falken nicht von einem Spalt gesprochen? Der es den Neuen Göttern erlaubt hatte, Grace zur Erde zu transportieren – und dem Fahlen König die Gelegenheit gab, ihr sein Gefolge hinterherzuschicken.
Es war Travis’ Fehler; er war derjenige gewesen, der mit dieser unbedachten Handlung den Spalt geschaffen hatte.
»Ich kann alles nur zerstören«, sagte Travis gequält.
Der Prediger zuckte mit den Schultern. »Manche Dinge sollte man zerstören.«
»Nicht eine ganze Welt. Ich kann das nicht tun. Ich werde es auch nicht tun. Ich werde Eldh nicht zerschmettern.«
»Und wenn das dein Schicksal ist?«
Er erwiderte den harten Blick des Predigers. »Ich habe kein Schicksal.«
»Jeder hat ein Schicksal, mein Sohn.«
»Ich nicht.« Travis hielt die Hand hoch. »Sehen Sie? Sie ist glatt. Keine Linien, also kein Schicksal.«
Der Prediger seufzte. »Das bedeutet lediglich, dass du dein Schicksal nicht kennst. Und begreifst du nicht, was für ein Geschenk das ist? Es bedeutet, du entscheidest, wie dein Schicksal aussehen wird.«
Als sie das erste Mal miteinander geredet hatten, damals, in jener Nacht in dem Erlösungszelt, hatte Bruder Cy von Entscheidungen gesprochen. Und später am Runentor hatte Travis gelernt, dass es besser war, die falsche Wahl zu treffen als gar nichts zu tun. Trotzdem verspürte er noch immer Entsetzen.
»Ich will das nicht tun. Ich will die Welt nicht zerstören.«
»Das ist gut, mein Sohn. Denn wenn du das tun wolltest, würdest du dich kein bisschen von ihm unterscheiden.«
Irgendwie wusste Travis, von wem Bruder Cy da sprach. »Sie haben gesagt, ein Spalt wäre geöffnet worden. So sind Sie zur Erde gelangt. Und das bedeutet, dass Mohg ebenfalls hier ist, nicht wahr? Und hier muss er nur ein offenes Tor finden, um nach Eldh zurückkehren zu können. Das ist sein Plan. Oder wird es sein.«
Bruder Cy nickte. »Mein Bruder muss sein, was er sein muss. Das ist seine Natur. Und was wirst du sein, mein Sohn?«
Plötzlich war alles so klar. Die Furcht, die Travis verspürte, wurde von Entschlossenheit verdrängt. Bruder Cy hatte Recht; es nutzte einem nichts, wenn man hoffte. Also konnte er, solange noch ein Atemzug in
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