Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
stark und gesund war, dass er für sie da war, so wie es immer der Fall gewesen war. Trotzdem fühlte sie, wie ihr Zorn verrauchte. Sie wandte sich ab.
»Verlier nicht alle Hoffnung, Tochter«, sagte die Alte hinter ihr. »Noch hat der Splitter sein Herz nicht erreicht. Du wirst noch Zeit mit deinem Ritter verbringen können, bevor das Ende da ist.« Ihre Stimme wurde leiser. »Leb wohl. Und vergiss den Stuhl nicht.«
Grace drehte sich um, aber das goldene Licht erfüllte den Wald, und sie konnte die Alte nicht erkennen. Dann schwand das Licht, und als sie sich wieder Durge zuwandte, sah sie, wie eine silberne Schlange auf Durge zukroch. Nur dass es gar keine Schlange war, sondern sein Breitschwert. Er war wieder bekleidet, seine Sachen wiesen weder einen Riss noch Schmutz auf.
»Mylady, was ist passiert?« Durge setzte sich auf und blinzelte, während er sich in alle Richtungen umblickte.
Grace kniete neben ihm nieder und nahm seine Hand. Ihr Atem verwandelte sich in Nebel; die bittere Kälte war zurückgekehrt. »An was könnt Ihr Euch erinnern?«
»Da bin ich mir nicht sicher.« Er runzelte die Stirn. »Ich erinnere mich, dass ich mit Euch zum Wald geritten bin. Und dann …« Er schüttelte den Kopf, Staunen zeigte sich auf seinem Gesicht. »Ich fürchte, das Kleine Volk muss am Werk gewesen sein, Mylady, obwohl wir es doch nicht gefunden haben, denn ich hatte einen sehr seltsamen Traum. Ich habe geträumt, ich sei ein Hirsch, der durch den Wald rannte, und dass Jäger mich erlegen wollten. Aber eine wunderschöne Jungfrau warf sich auf mich und beschützte mich vor ihren Pfeilen. Es war alles sehr seltsam.«
Grace verspürte eine tiefe Erleichterung. Er konnte sich nicht mehr an das erinnern, was tatsächlich passiert war. »Denkt nicht darüber nach, Durge. Es ist alles mit Euch in Ordnung.« Aber das war keineswegs die Wahrheit, oder? Selbst in diesem Augenblick arbeitete sich der Eisensplitter seinem Herzen entgegen.
Grace bemerkte gar nicht, dass sie weinte, bis er ihr die Tränen von den Wangen wischte.
»Was ist, Mylady?«, sagte er tadelnd. »Ihr dürft nicht weinen. Schließlich bestand nie die Hoffnung, dass uns das Kleine Volk helfen wird. Und das macht auch nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir jemals einen Weg finden, den Fahlen König daran zu hindern, aus dem Tor geritten zu kommen, aber zumindest werden wir ihn zusammen nicht finden.«
»O Durge«, sagte Grace, und zu seinem offensichtlichen Erstaunen warf sie die Arme um ihn und schluchzte.
ZWEITER TEIL
Der Schlüssel
13
Als Deirdre Falling Hawk ihr Apartment betrat, wartete ein Päckchen von den Suchern auf sie. Sie legte die Schlüssel neben den Pappkarton auf dem Küchentisch. Die Vermieterin musste sie hereingelassen haben.
Oder die Sucher haben einen Nachschlüssel, der in ganz London funktioniert.
Aber egal, das Päckchen konnte warten. Sie zwängte sich in den Schrank mit Herd und Spüle, der die Küche sein sollte, setzte Teewasser auf und ging dann ins daneben liegende Badezimmer. Sie nahm eine Dusche und ließ das heiße Wasser auf sich niederprasseln, so als hätte es die Macht, sie aufzuwecken, dabei wusste sie doch ganz genau, dass sie gar nicht schlief.
Sie trocknete sich ab, schlüpfte in einen flauschigen Bademantel und ging auf nackten Füßen zurück in die Küche, um sich eine Tasse Earl Grey mit Zitrone zu machen. Mit der Tasse in der Hand rollte sie sich auf dem abgenutzten Sofa zusammen. Sie schlürfte den Tee, sah zu, wie der Tag jenseits des Fensters zu Ende nieselte, und fragte sich, ob sie Hadrian Farr jemals wieder sehen würde. Sie ging ihre Unterhaltung in dem Pub früher an diesem Tag immer wieder in Gedanken durch. Es war sinnlos; sie hätte ihn nicht am Gehen hindern können, egal, was sie auch gesagt hätte.
Es regnete, bis die Nacht anbrach. Deirdre stand auf und schaltete eine Stehlampe ein. Wer auch immer diese Wohnung für die Sucher eingerichtet hatte, war offensichtlich ein Anhänger von Trödelläden gewesen – und wurde außerdem von dem leidenschaftlichen und zielstrebigen Verlangen getrieben, dass jeder Gegenstand in dem Apartment eine andere Farbe aufwies.
Sie schlüpfte in Jeans, einen Lammwollpullover, den sie vor ein paar Jahren in Oslo gekauft hatte, und ihre Lederjacke. Sie verließ das Apartment und ging durch Straßen, die der Regen in schwarze Spiegel verwandelt hatte. Nach ein paar Blocks kam sie an einem von Neonlicht erleuchteten Nachtclub vorbei.
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