Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Dröhnende Musik quoll aus der Tür und wallte die Gosse wie Regenwasser entlang. In der feuchten Luft schwebte Gelächter. Die Hände in die Taschen geschoben ging sie weiter.
In einem kleinen Laden kaufte sie eine Portion indisches Essen und ging zurück zu ihrem Apartment. Der Karton der Sucher nahm fast den ganzen Tisch in Anspruch, also stellte sie ihn auf den Boden. Er besaß keine Aufschrift, nicht mal einen Postaufkleber – da war nur ein kleines Symbol, das in einer Ecke aufgestempelt war: eine Hand mit drei Flammen.
Deirdre setzte sich an den Küchentisch und aß langsam, sie atmete den berauschenden Duft von Nelke und Kardamom tief ein. Beim Essen blätterte sie die Zeitung durch, die sie aus einem Verkaufskasten gezogen hatte; sie hatte sie fast durch, als ihr auffiel, dass es die Ausgabe vom Vortag war. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Heutzutage waren die Nachrichten immer gleich: noch mehr Angst und Aufruhr, noch mehr Schießereien und Selbstmordattentate, noch mehr Kriegsgerüchte.
Im vergangenen Herbst waren die Dinge eine Zeit lang etwas besser geworden, nachdem die Flammenpest so plötzlich geendet hatte, wie sie begonnen hatte. Jetzt waren die unheilvollen Zeiten wieder da, dunkler als je zuvor. Vor allem in den Vereinigten Staaten schienen die Dinge besonders schlimm zu sein. Die Menschen hatten Angst, und darum befand sich die Wirtschaft auf Talfahrt. Gleichzeitig wurde die Rhetorik der Regierung zusehends konservativer. Grundsätzliche bürgerliche Freiheiten wurden außer Kraft gesetzt, und einige Senatoren schlugen allen Ernstes vor, die Grenzen zu schließen. Aber damit würde man nichts erreichen. Sich in einem verriegelten Zimmer zu verbergen war keine große Hilfe, wenn das Haus um einen herum auseinander fiel.
Ihr war der Appetit vergangen, sie faltete die Zeitung zusammen und warf sie in den Kasten für das Altpapier, dann stellte sie die Reste und das Geschirr in die Spüle. Sie ging zurück zum Sofa und setzte sich. Der Karton der Sucher lauerte in der Ecke, Unheil verkündend in seiner Schlichtheit.
Bewusst nahm sie den Blick von dem Karton und griff nach dem Holzkasten, in dem ihre Mandoline ruhte, in diesen Räumen war es zu still; jeder Gedanke war wie ein Schrei in ihrem Kopf. Vielleicht würde ein bisschen Musik helfen. Sie strich über die Mandoline und zuckte zusammen. Das arme Ding schien in der feuchten Londoner Luft keinen Ton halten zu können. Sie zog die Saiten fester, dann strich sie erneut darüber. Diesmal lächelte sie über den warmen Ton, der aus dem Instrument aufstieg, ein Ton, der so willkommen und vertraut wie der Gruß eines alten Freundes war.
Sie zupfte eine fröhliche irische Weise. Es war die erste Melodie, die sie im Haus ihrer Großmutter als kleines Mädchen spielen gelernt hatte. Sie war nicht älter als acht oder neun gewesen und klein für ihr Alter, so dass sie kaum fähig gewesen war, gleichzeitig Akkorde zu fingern und zu zupfen. Jetzt schmiegte sich die Mandoline perfekt an die Kurven ihres Körpers, so als wäre sie extra für sie angefertigt worden.
Ihre Finger spielten andere Lieder, hell und fröhlich oder langsam und so tief wie ein träumender Ozean. Ihre Gedanken schweiften ab, während sie spielte, zurück zu den Tagen, in denen sie Bardin gewesen war, neue Orte kennen gelernt hatte, mit ihrer Musik etwas Geld verdient hatte und dann weitergezogen war. Das war, bevor sie jemals von Jack Graystone oder Grace Beckett gehört hatte. Bevor Travis Wilder etwas anderes als ein netter Saloonwirt in einer kleinen Stadt in Colorado gewesen war, mit dem sie beinahe eine Affäre angefangen hätte. Bevor sie Hadrian Farr in jenem verrauchten Pub in Edinburgh kennen gelernt hatte, wie zahllose andere dumme Frauen dem Geheimnis seiner dunklen Augen zum Opfer gefallen war und ihren Weg zu den Suchern gefunden hatte.
Erst als sie darüber nachsann, wie seltsam und unerwartet die Reisen doch waren, auf die einen das Leben führen konnte, wurde ihr bewusst, dass sie ein Lied über Reisen spielte. Mit leiser Stimme sang sie zu den letzten Tönen.
»Wir leben unser Leben, als wär's ein Kreis, wir wandern drauflos und voraus.
Dann, nach Feuer und Staunen,
enden wir wieder dort, wo alles begann.«
Ihre Finger glitten von den Saiten, und die Musik verklang. Ein Schauder überkam sie, und sie fröstelte. Wieso hatte sie gerade dieses Lied gespielt?
Sie hatte die Musik und den Text zwei Jahre zuvor in der Sucher-Akte über James Sarsin
Weitere Kostenlose Bücher