Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Königlichen Hauses von Malachor war. Was war, wenn sie sich auf den Stuhl setzte und zu einem Häufchen Asche verbrannt wurde?
»Das würde es ihnen sicher beweisen, nicht wahr?«, murmelte sie und musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu lachen.
Grace fuhr über das Symbol auf dem Stuhlrücken: ein stilisierter Knoten mit vier Schlaufen, der einen vierzackigen Stern umgab. Sie verspürte keinen Stich der Magie. Ihre Finger waren bloß staubig, nicht verbrannt. Langsam rückte sie an die Vorderseite des Stuhls heran.
»Nun, alles oder nichts.«
Grace setzte sich. Falls auf Stuhl Malachor ein Fluch lag, dann bloß der, dass er außerordentlich unbequem war. Der Sitz war hart, und die Schnitzereien in der Lehne bohrten sich ihr in den Rücken. Davon abgesehen – und von der Tatsache, dass er für jemanden konstruiert zu sein schien, der fast einen Meter größer als sie war – schien nichts Besonderes an ihm zu sein.
Aber es musste etwas geben. Setze dich in den Stuhl, der allen anderen verboten ist, hatte die Waldkönigin gesagt, und der Schlüssel wird sich dir enthüllen.
Grace konnte nichts an dem Stuhl entdecken, das herausragte und wie ein Schlüssel aussah; sämtliche Vorsprünge waren fest mit ihm verbunden. Vielleicht war es eine Art Rätsel – vielleicht gab es etwas, das man nur sehen konnte, wenn man in diesem Stuhl saß. Aber das Gemach sah aus dieser Perspektive genauso aus wie aus jeder anderen.
Nun gut, dann war es vielleicht etwas an dem Tisch vor dem Stuhl. Sie tastete mit einer Hand die Unterseiten des Tisches ab und rechnete beinahe damit, auf ein Stück Kaugummi zu stoßen, das jemand dort hingeklebt hatte, aber es gab nichts. Grace seufzte; ihr war kalt und mehr als nur etwas übel, von ihrer Müdigkeit ganz zu schweigen. Was hatte sie denn erwartet? Es war bloß ein Stuhl, und sie bezweifelte, dass die Geschichte von der Hexe und dem Fluch der Wahrheit entsprach.
»Erzähl das dem Grafen von Wetterly«, sagte eine krächzende Stimme. »Er hielt sich für einen Nachkommen König Ulthers, und er hat vor ein paar Jahrhunderten versucht, sich auf den Stuhl zu setzen. Alles, was sie am nächsten Morgen von ihm gefunden haben, waren seine Zähne. Seitdem hat niemand mehr den Stuhl berührt. Bis jetzt.«
Grace keuchte auf und blickte sich um, aber sie konnte die Sprecherin nirgendwo entdecken. »Wer ist da? Zeigt Euch!«
»Ich bin doch direkt hier, Euer Majestät.« Eine in graue Fetzen gekleidete, unförmige Gestalt schlurfte hinter dem Stuhl hervor.
»Vayla«, sagte Grace. Sie legte den Kopf schief und dachte an die alte Vettel, die sie in König Kels Lager kennen gelernt hatte. »Oder seid Ihr Grisla?«
Die Alte zuckte mit den messerscharfen Schultern. »Warum entscheidest du das nicht, Euer Majestät.«
»Bleiben wir im Augenblick bei Vayla. Sie ist weniger …«
»Lustig?«, sagte die Alte.
Grace lächelte, »ich wollte sagen impertinent.«
Vayla stieß ein Schnauben aus. »Wie du willst, Euer Majestät. Aber vielleicht wäre es besser, Grisla wäre hier und nicht ich. Denn weißt du, sie würde keine Sekunde zögern, dir zu sagen, was für ein großer Dummkopf du doch bist.«
»Was meint Ihr?«
»Du weißt, was ich meine.« Vayla tippte ihr mit einem knochigen Finger gegen die Brust. »Du bist dir immer so sicher, dass alles hoffnungslos ist. Nach all dem, was du gesehen hast, hältst du wirklich so wenig von Magie? So wenig vom Leben? Beim Ersten und beim Letzten, manchmal lässt du diesen embarranischen Burschen wie einen Sonnenstrahl aussehen. Vielleicht solltest du deinen Namen in Lady Jammerlise umändern?«
Grace kniff die Augen zusammen. »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht doch Grisla seid?«
»Wir haben alle unterschiedliche Gesichter. Es ist bloß die Frage, welches Gesicht wir für den Moment aussuchen.« Die Alte starrte Grace mit ihrem hervorquellenden Auge an. »Und welches Gesicht wirst du heute aufsetzen?«
Grace wollte sagen, dass sie keine verschiedenen Gesichter hatte, aber das stimmte nicht, oder? Sie war Ärztin und Hexe. Und, ob sie nun wollte oder nicht, Königin. Und sie war eine Frau, allein und verängstigt. Aber was davon war wirklich sie?
»Ich weiß nicht, was ich sein werde.«
»Pfff«, machte Vayla, die Hände in die formlosen Hüften gestemmt. »Du solltest dich lieber entscheiden.«
»Was wird geschehen, wenn ich es nicht tue?«
»Wahnsinn, das wird geschehen. Unheil und Tod.« Die Alte beugte sich näher an den Stuhl heran;
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