Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
sie roch nach alten Blättern. »Wir haben viele Gesichter, aber wir können immer nur eines tragen. Wenn du versuchst, für jeden alles zu sein, dann wirst du am Ende gar nichts sein. Also such dir eines aus und bleib dabei.«
»Selbst, wenn es nicht das Richtige ist?«
»Und wenn das, was du wählst, aus deinem inneren kommt, Tochter, wie in aller Welt kann das dann falsch sein?«
Diese Worte überraschten Grace – und erfüllten sie zugleich mit einer seltsamen Aufregung. Seit man ihre Herkunft enthüllt hatte, hatte sie sich gegen die Vorstellung gewehrt, Königin zu sein. Aber was war der wahre Grund dafür?
Königinnen sollten stolz und majestätisch und furchtlos sein, Grace. Sie kommandieren Leute mit einem Fingerschnippen herum. Und sie wissen immer ganz genau, was sie tun.
Oder war das nur eine alberne Vorstellung von dem, wie eine Königin sein sollte – etwas aus Filmen und Büchern? Vielleicht musste sie ja nichts von dem sein, um Königin zu sein. Vielleicht musste sie nur diese unerreichbaren Ideen zur Seite legen und ihre eigene Art von Königin sein – eine mit einem schlechten Haarschnitt, einer ernsthaften Maddok- Sucht und der völligen Unfähigkeit zum Hofknicks. Und eine, die mit wundervollen Freunden gesegnet war, die ihr durch alles hindurchhelfen konnten. Vielleicht, nur vielleicht, konnte sie wirklich eine Königin sein.
Sie stieß die angehaltene Luft aus – es war ein Laut der Erkenntnis und des Loslassens.
Vayla tätschelte Grace mit einer verkrümmten Hand die Wange. »Das ist es, Tochter – niemand kann dir sagen, was du sein sollst. Weder Barden noch Götter noch Fahle Könige. Du bist diejenige, die entscheidet.«
Die alte Vettel drehte sich um und schlurfte in Richtung Tür.
Grace starrte ihr nach, dann wurde sie von Panik ergriffen. »Wartet! Ich brauche Euch. Ich muss den Schlüssel finden!«
»Dafür brauchst du mich nicht«, rief die Alte mürrisch über die Schulter zurück. »Er ist die ganze Zeit unter deinem Daumen gewesen.«
Unter dem Daumen? Grace schaute auf ihre Hände, die auf den Armlehnen ruhten. Das Holz unter beiden Daumen war glatt, obwohl direkt neben dem rechten die kleine Schnitzerei eines … was? Sie beugte sich näher heran, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Es war die Schnitzerei einer von Mauern umgebenen Festung oben auf einem hohen Berg.
Unwillkürlich drückte sie gegen die Schnitzerei. Ein Klicken ertönte, und ein kleines Stück Holz unter ihrem Daumen schob sich nach innen. Überrascht nahm sie die Hand zurück, und eine kleine Schublade schoss aus der Lehne.
Nachdem sich ihr Herz entschieden hatte, wieder zu schlagen, schaute Grace in die Schublade. Dort lag eine milchfarbene Steinscheibe von der Größe einer Vierteldollarmünze, aber wesentlich dicker. Sie zögerte, dann ergriff sie sie. Sie sah sofort, dass es sich um eine Rune handelte. Drei parallele Linien verliefen oben auf der Scheibe; sie waren identisch mit der Rune in der Mitte des Ratstisches. Grace erkannte das Symbol. Es war Hoffnung.
Natürlich. War Hoffnung nicht immer der Schlüssel? Mit Hoffnung war alles möglich.
»Und wie benutze ich sie?«
Schweigen. Sie schaute auf. Vayla war nirgendwo zu sehen. Aber die Alte hatte nur einen Weg nehmen können. Grace stand auf und schob die Rune in eine Tasche, dann schlüpfte sie durch den Spalt in der Tür. Mit wehendem Schultertuch lief sie den Korridor entlang, bis sie zu einer Abzweigung kam. Welcher Weg?
Im Augenwinkel sah Grace eine Bewegung und drehte sich noch rechtzeitig um, um ein Stück graues Tuch um die Ecke verschwinden zu sehen. Sie rannte den Korridor entlang und umrundete die Ecke. Ein unförmiger Schatten tauchte gerade in einen vorausliegenden Torbogen ein. Grace eilte ihm nach.
Sie fand sich in einem halbdunklen Saal wieder, der von Rüstungen gesäumt wurde. Am anderen Ende war eine Tür, aus der goldenes Licht schimmerte. Einen Augenblick lang zeichnete sich eine formlose Silhouette im Licht ab, dann trat sie hinein. Grace beugte sich vor, raste den Saal entlang und rannte durch die Tür.
»Wohin des Weges?«, sagte eine Stimme. Sie war sanft und ruhig, leicht amüsiert, eine Frauenstimme.
Grace kam rutschend zum Stehen und blieb nur ein Stück vor einem Speer stehen, den eine Rüstung in einem entschieden gefährlichen Winkel hielt. Sie war in einem kleinen Vorraum. Es gab ein paar Stühle und mehrere von der Zeit dunkel angelaufene Porträts von Herzögen, Grafen und Prinzen an den
Weitere Kostenlose Bücher