Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
Frau stand über Graces Bett gebeugt. Sie trug einen grauen Umhang.
»Wer seid Ihr?«, flüsterte Grace, da sie Tira nicht wecken wollte.
»Mein Name ist Samatha, Euer Majestät.« Die Frau hatte ein langes, schmales Gesicht mit scharfen Zügen. Sie erinnerte Grace an ein Frettchen – klein, schlank und gefährlich. »Aldeth bat mich, Euch zu wecken.«
Sie war eine der Spinnenfrauen. Grace schob sich das zerzauste Haar aus der Stirn und zwang ihr schlaftrunkenes Gehirn, wieder zu funktionieren. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Es sind … Eindringlinge im Lager.«
Eine kalte Nadel der Furcht stach in Graces Herz. In ihrem Kopf blitzten Bilder auf: knurrende Feydrim und die geisterhaften Gestalten von Phantomschatten. »Holt Durge und Tarus«, sagte sie und tastete nach dem Schwert. »Wir müssen die Männer wecken und gegen sie kämpfen.«
»Nein, Euer Majestät. Diese Eindringlinge sind keine Diener des Fahlen Königs. Sie sind nicht gekommen, um zu kämpfen.«
Die Furcht wich Verwirrung. »Was wollen sie denn dann?«
»Mit Euch sprechen, Euer Majestät.«
Minuten später folgte Grace, den Umhang hastig über das Nachthemd geworfen, Samatha zu einem Hain aus blattlosen Valsindar. Die helle Baumrinde schimmerte im Mondlicht wie Knochen. Durge und Tarus traten zu ihr und schlossen sich ihr an.
»Worum geht es, Mylady?«, grollte Durge, aber bevor sie antworten konnte, trat Aldeth aus einem Schatten.
»Sie erwarten Euch auf der Lichtung, Euer Majestät.«
»Wer?«, schaffte sie zu sagen. Es war kalt, und ihr klapperten die Zähne.
»Ich glaube, das solltet Ihr Euch besser selbst ansehen.«
»Ihr dürft nicht allein gehen«, sagte Durge.
Grace nickte – sie würde kaum deswegen streiten.
»Wir halten hier Wache.« Tarus legte die Hand auf den Schwertgriff. »Wenn Ihr Hilfe braucht, müsst Ihr nur rufen, und wir sind an Eurer Seite.«
Grace schenkte dem Ritter ein, wie sie hoffte, tapferes Lächeln, dann ging sie dem Hain entgegen. Durge blieb an ihrer Seite, als sie zwischen zwei Bäume trat.
Sie ist gekommen, Schwestern, sagte da eine Stimme in Graces Bewusstsein.
Grace blieb stehen. Durge neben ihr stieß einen leisen Fluch aus. In dem Hain gab es eine kleine Lichtung, und dort stand eine Gruppe von Frauen – man konnte schwer sagen, wie viele es genau waren. Zwischen den Ästen hingen grüne Lichtkugeln, die flackerten und seltsame Schatten warfen. Grace war sich entfernt bewusst, dass es in dem Hain nicht kalt war; die Luft war so warm wie im Frühling.
Die Frauen waren ein seltsamer Haufen. Da waren alte Vetteln mit verfilztem grauem Haar in formlosen Kleidern, an denen Moos und getrocknete Blätter klebten, und mütterliche Frauen mit praktischen Umhängen und zu Hause gewebten Gewändern. Andere waren eher in Graces Alter und hielten Wanderstäbe oder Weidenkörbe. Und es waren mindestens zwei darunter, die kaum die Schwelle zum Erwachsenenalter erreicht haben konnten und Grace mit Augen anblickten, die zu wissend und weise für ihre pausbäckigen Gesichter waren.
Grace war sofort klar, dass die Frauen Hexen waren. Ein Zirkel? Nicht ganz – als sich ihre Augen an das Licht gewöhnten, zählte sie nur zwölf. Benötigte ein voller Zirkel nicht dreizehn?
»Das tut er«, sagte eine der jüngeren Frauen. »Darum sind wir gekommen.«
Grace blinzelte. »Entschuldigung?«
Eine der ältesten Hexen humpelte nach vorn und stützte sich dabei auf einen krummen Stab. »Ihr bereist eine lange Straße, die zum Herzen des Schattens führt.«
Durge runzelte die Stirn. »Was geht es dich an, wo wir hinreisen, Frau?«
Die Alte lachte. Sie hatte kaum noch Zähne. »Das geht uns alle an, Herr Ritter. Glaubt nur nicht, wir könnten es nicht sehen, denn unsere Sicht ist scharf. Ihr marschiert zur Letzten Schlacht, und bald werden alle Krieger von Vathris euch folgen.«
Durge verschränkte die Arme. »Und wollt ihr uns aufhalten? Da habt ihr keine Chance.«
Die junge Hexe, die gesprochen hatte, trat näher. Sie trug das eintönige Braun einer Bäuerin, und ihr langes Gesicht war unscheinbar, aber ihrer Haltung haftete eine gewisse Eleganz an. »Wir wollen euch nicht aufhalten, Herr Ritter.«
»Aber müsst ihr das nicht?« Grace befeuchtete sich die Lippen. »Seid ihr kein Teil des Musters?«
Die Hexen wisperten, und die Alte warf der jungen Frau einen durchtriebenen Blick zu. »Wir haben unser eigenes Muster gemacht, es in diesen letzten Jahren im Geheimen gewebt.«
Grace verspürte Aufregung.
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