Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
Unterlippe und verstummte.
Ein begreifendes Seufzen entfuhr mir. Ihre blasse Haut, die hellen Augen, ihre schlanken Finger – diese Dinge kamen nicht nur von jugendlicher Schönheit.
»Ihr seid also sehr krank?«, fragte ich.
Sie schob eine widerspenstige Haarlocke, so dunkel wie ein Schatten, unter die Haube zurück. »Die Ärzte können es nicht sagen. Ich bin seit meiner Kindheit schwächlich, und sie befürchteten, dass ich mein sechzehntes Jahr nicht erreichen würde. Aber jetzt bin ich dreiundzwanzig. Versteht Ihr? Es gibt Grund zur Hoffnung, und vielleicht hat mein Vater ja doch Recht.« Sie legte die Blätter am Boden ab. »Aber jetzt müsst Ihr mir verraten, was Euch heute in die Kirche geführt hat, Sir.«
Ich ließ den Blick durch den Kreuzgang schweifen. »Ich war auf der Suche nach jemandem, der angeblich oft hier sein soll, aber ich habe sie nicht gefunden.«
»Ich bin selbst oft hier. Vielleicht könnt Ihr mir diese Person beschreiben, und ich kann sagen, ob ich sie je hier gesehen habe.«
»Ich fürchte, ich weiß nicht, wie sie aussieht.«
»Nun, das macht es mehr zu einem Kunststück, oder?«
»In der Tat. Aber man hat mir zu verstehen gegeben, dass sie hier gern in der Sonne sitzt.«
»Nun, dann fürchte ich, habe ich sie noch nie gesehen. Denn ich ziehe Tage wie diesen vor.« Sie holte Luft. »Der Nebel ist so sanft. Das Sanfteste von allem.«
Ich lächelte. »Ich habe den Nebel schon immer gemocht, aber aus anderen Gründen. Ich mag es, wie der Nebel einen verbirgt. Er ist privat, geheimnisvoll.«
»Ich verstehe. Dann seid Ihr also ein Mann der Geheimnisse. Dabei dachte ich schon, Ihr würdet mir Euren Namen verraten.«
»Aber der ist kein Geheimnis«, sagte ich und nannte ihr meinen vollen Namen, denn es gab keinen Grund, ihn zu verheimlichen.
»Das ist eine sehr glückliche Namensgebung.«
Ich hob eine Braue. »Wieso das?«
»Albrecht – das kommt von Adalbrecht, da bin ich mir sicher, was ›edel‹ bedeutet. Und Marius Lucius bedeute; ›Krieger des Lichts‹.«
Ein Schauder durchfuhr mich. »Ihr wisst viel.«
»Nein, das kann ich nicht behaupten. Aber ich habe viel gelesen, als ich jung war, an den Tagen, an denen ich nicht ausgehen konnte, von denen es etliche gab. Man schnappt viele seltsame Fakten und Ideen auf, wenn man Bücher liest.«
»Das ist wohl wahr.«
Die Glocken der Kirche begannen zu läuten; Tauben stiegen auf und verschwanden im grauen Himmel.
»Ich muss gehen«, sagte sie und sammelte ihre Sachen ein.
Ich stand ebenfalls auf. »Darf ich Euch meine Hilfe anbieten?«
Sie schüttelte den Kopf, die Arme voller Papier. »Ihr seid zu freundlich, Mister Albrecht. Aber es geht schon. Der Diener meines Vaters wird vorn mit der Kutsche auf mich warten.«
Eine Kutsche? Offensichtlich war ihr Vater wohlhabend. Ich verneigte mich vor ihr, und erst als sie ging, wurde mir klar, dass ich ihren Namen nicht wusste. Ich sagte es, und sie blieb vor einer Tür stehen und schaute zurück.
»Mein Name ist Alis«, sagte sie mit einem Lächeln. »Einen schönen Tag, Mister Albrecht.«
Und ich starrte ihr mit offen stehendem Mund hinterher, wie sie in der Kirche verschwand.
Ein Fehler – ich hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Aber woher hätte ich es wissen sollen? Ihr Benehmen war wohlerzogen, wenn auch etwas seltsam gewesen, aber ihr Kleid stand in jedem Gegensatz zu ihrem Status. Außerdem hatte die alte Frau gesagt, sie würde die Sonne bevorzugen. Hatte die verdammte Dienerin mich absichtlich in die Irre geführt?
Es spielte keine Rolle; nichts davon spielte eine Rolle mehr. Das war erst der erste Tag meiner Untersuchung, und ich hatte bereits das Erste und das Dritte Desiderat gebrochen. Sicherlich würden mich die Philosophen, sobald sie meinen Fehler entdeckten, aus den Suchern ausschließen.
Am Abend traf ich Byron in der Schenke, und er fragte mich, warum ich so niedergeschlagen aussah. Ich wusste, dass Ausflüchte sinnlos waren, auch wenn ich es nicht wagte, ihm alle Fakten aus dem Brief der Philosophen zu erzählen. Über meinen Becher gebeugt erzählte ich ihm das, was ich konnte – wie ich mich der jungen Frau, die ich beobachten sollte, unbeabsichtigterweise gezeigt hatte.
»Na, das hört sich so an, als hättet Ihr da einen schönen Schlamassel angerichtet«, sagte Byron und lachte. »Das passt gar nicht zu Euch, Marius. Ich frage mich, was Euch so nachlässig hat handeln lassen?«
Eine gute Frage, und darüber hinaus eine, die ich nicht
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