Die Letzte Spur
Riegel vor. Es passierte ihr immer wieder, dass sie hier abzuschließen vergaß. Nach dem Frühstück warf sie stets ihre Brotkrumen hinaus auf die wackelige Treppe, für ein Taubenpärchen, das seit Jahren in ihrem Garten wohnte und schon immer sehnsüchtig auf diese Mahlzeit wartete. Allzu häufig ließ sie hinterher die Tür aus Versehen unverschlossen. Schon manchmal war sie von einem Arbeitstag zurückgekehrt und hatte festgestellt, dass wieder einmal jeder Einbrecher bequem hätte in ihr Haus spazieren können. Wobei noch nie etwas passiert war. Die Gegend war nicht ausgesprochen reich, und ihr Haus zählte sowieso nicht zu denen, die den Kontostand ihrer Besitzer offenbarten. Es hätte dringend einen neuen Anstrich gebraucht, und dass der Vorgarten noch nie die ordnende Hand eines ausgebildeten Gärtners gespürt hatte, stach ebenfalls ins Auge. Marina fand, man vermute in ihrem Haus eine Familie, die gerade so über die Runden kam, und das vermittelte ihr ein gewisses Sicherheitsgefühl.
Sie nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas großzügig voll.
Dann ging sie ins Wohnzimmer hinüber, schaltete den Fernseher ein, um wenigstens irgendwelche Stimmen um sich zu haben. Es lief eine Reportage über Waisenkinder in Indien. Für Sekunden starrte sie auf den Bildschirm. Ein Kind …
Sie schaltete in ein anderes Programm um, in dem ein alter Spielfilm gezeigt wurde, und wandte sich dann dem Kamin zu. Ein schöner, steinerner Kamin, den ihr Exmann selbst gemauert hatte. Die Dunkelheit würde jetzt bald hereinbrechen, und ein Feuer würde Gemütlichkeit und Wärme verbreiten.
Gerade als sie niederkniete und einige der sorgfältig gestapelten Holzscheite aus dem Korb an der Wand nahm, hörte sie das Geräusch.
Es war das Knacken einer Fußbodendiele, und es kam von irgendwo oben im Haus. Wenn sie sich hätte festlegen sollen, hätte sie gesagt: aus ihrem Arbeitszimmer.
Sie richtete sich auf, lauschte nach oben. Alles war still.
Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. Sie wollte mit ihrer Arbeit fortfahren, da vernahm sie das Geräusch schon wieder. Sie lebte lange genug in diesem Haus, um sicher zu sein, dass es sich um die Bodendielen handelte, und nun war sie auch überzeugt, dass es die in ihrem Arbeitszimmer sein mussten.
Sie sprang auf die Füße.
Nur ruhig, ermahnte sie sich, alte Häuser knacken manchmal, das bedeutet vielleicht überhaupt nichts.
Sie hatte sich ihre Hausschuhe noch nicht angezogen und tappte lautlos in Socken in den Flur hinaus. Direkt gegenüber der Wohnzimmertür schraubte sich die Treppe nach oben.
»Hallo?«, rief sie leise. Ihre Hand lag auf der Klinke der Haustür. Sie konnte jederzeit nach draußen stürzen und um Hilfe schreien. Sie hatte genügend Nachbarn. Irgendeiner würde sie hören.
Alles blieb still. Marina sagte sich, dass sie wohl hysterisch war. Es gab tausend Gründe, weshalb Dielenbretter knarren konnten.
Welche Gründe eigentlich?, fragte sie sich gleich darauf, und ihr wollte nicht einer einfallen, der sie überzeugt hätte.
Geh hinauf und sieh nach, ehe du den ganzen Abend nervös und ängstlich herumzappelst!
Kurz überlegte sie, ob sie rasch nach nebenan laufen und ihre Nachbarin bitten sollte, mit ihr zu kommen, aber dann kam ihr das doch zu lächerlich vor. Wahrscheinlich fanden sie nichts, aber in der ganzen Gegend würde man darüber sprechen, wie überspannt und altjüngferlich sie doch war.
Sie lebt schon zu lange allein. Das bekommt ihr nicht. Sie wird immer seltsamer. Na ja, so findet sie natürlich keinen Mann mehr!
Sie biss die Zähne zusammen, schaltete das Licht im Treppenhaus an und stieg mit einiger Entschlossenheit die Stufen hinauf. Ihr fiel wieder das seltsame Gefühl am frühen Morgen in der Garage ein, und die Tatsache, dass sie den ganzen Tag fort und die Küchentür unverschlossen gewesen war. Jeder hätte leicht in ihr Haus gelangen können. Aber wozu? Einbrecher kamen, um zu stehlen, nicht um sich versteckt zu halten und der Bewohnerin aufzulauern.
Oder doch? Vielleicht hockte dort oben ein Typ. der nicht auf Computer, Schmuck oder Bargeld scharf war. Sondern auf eine Frau.
Blödsinn, Marina, dich hat so lange keiner mehr angefasst, dass du schon Vergewaltigungsfantasien hegst, sagte sie grob zu sich, aber ihr Herz schlug weiterhin bis zum Hals. Hier oben saß sie in der Falle. Hier oben konnte sie nur hoffen, ein Fenster zu erreichen, es aufzureißen und in den Abend hinauszubrüllen.
Sie
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