Die Letzte Spur
andere als erfreulich. Wie ich schon sagte …«
»… ist Rob zu seiner Mutter geflüchtet. Du hast ihn gesprochen? Wie geht es ihm?«
»Er wirkt verstört. Er war keineswegs glücklich, mich zu sehen, und eigentlich hat er wenig geredet. Im Wesentlichen hat er gesagt, dass er nicht mehr mit mir nach Gibraltar zurückmöchte.«
»Er geht dort zur Schule!«
»Er meint, dass er hier in England genauso zur Schule gehen kann. Was natürlich stimmt.«
»Möchte er denn bei seiner Mutter leben?«
Dennis zuckte mit den Schultern. »Genaues scheint er sich da gar nicht vorzustellen. Ich habe den Eindruck, er will einfach nur weg von mir. Über die Konsequenzen hat er gar nicht richtig nachgedacht. Er ist durchgebrannt – und zwar zu dem einzigen Menschen, den er außer mir auf der Welt noch hat: zu seiner Mutter.«
»Wie geht sie damit um?«
»Marina? Auf mich wirkt sie etwas überfordert. Das Ganze kam für sie völlig überraschend, er hatte sich nicht angekündigt. Er stand plötzlich in ihrem Haus, als sie von einem Ausflug zurückkehrte, und sie wollte schon um Hilfe schreien, weil sie ihn für einen Einbrecher hielt. Nun hat sie auf einmal einen Sohn, der den Anspruch an sie stellt, sich wie eine Mutter zu verhalten. Sie hat sich erst einmal ein paar Tage freigenommen, um Zeit mit ihm verbringen zu können. Sie versucht ihr Bestes.«
»Im Grunde ist es ja gar nicht schlecht, dass die beiden einander kennen lernen«, sagte Rosanna. »Roberts Mutter ist schließlich nicht tot. Ich fand die Vorstellung immer etwas bedrückend, dass absolut kein Kontakt zwischen ihnen bestand. Robert ist in einem schwierigen Alter. Es geht jetzt für ihn auch darum, seine Identität zu finden, und dafür braucht er auch seine Mutter. Vielleicht hat seine Flucht nach England viel mehr mit diesem Bedürfnis zu tun als mit eurem Streit.«
»Du meinst, der Streit war eine Art Auslöser für etwas, das er ohnehin wollte?«
»Ich könnte mir denken, dass ihn die Frage nach seiner Herkunft schon länger beschäftigt. Er hat mit Marina etwas zu klären. Vielleicht sollte man das nicht unterbinden.«
»Es kommt aber noch etwas hinzu«, sagte Dennis. Er sah Rosanna nicht an, sondern blickte an ihr vorbei in die Hotellobby, in der das übliche Leben und Treiben eines normalen Abends herrschte: viele Geschäftsleute, die einander zum Essen trafen, ein paar ältere Paare, die sich, ihrer Kleidung nach zu schließen, auf den Weg ins Konzert oder ins Theater machten, Ankommende, die ihre Trolleys hinter sich herzogen und die Rezeption ansteuerten. Es herrschte lautes Stimmengewirr, und von irgendwoher erklangen die Töne eines Pianos.
»Es kommt noch etwas hinzu«, wiederholte Dennis. »Robert war sehr verstört, ehe er … von daheim weglief. Er ist von der fixen Idee besessen, dass du nicht zu uns zurückkommen wirst. Offenbar hegt er schon seit längerer Zeit Ängste in dieser Richtung, und durch deinen Aufenthalt in London sieht er sich bestätigt. Ich glaube, er hat das Gefühl, dass seine Welt zusammenbricht. Dass unsere Familie schon bald nicht mehr bestehen wird. Ich denke, wäre nur mein Verbot, zu dieser Party zu gehen, der Grund für sein Weglaufen gewesen, dann hätte er sich zu dir geflüchtet. Bei eurem guten Verhältnis wäre das nur logisch gewesen. Aber er glaubt, dass er dich verliert. Vielleicht schon verloren hat. Daher nannte ich Marina vorhin den einzigen Menschen, den er außer mir noch hat . Er versucht, sich in Marina den Ersatz für dich zu sichern. Was so natürlich nicht geht, und was sicher auch nicht funktionieren wird.«
Sie war froh, dass er so beharrlich an ihr vorbeiblickte, denn sie hatte den Eindruck, dass ihr Gesichtsausdruck sie verriet: Sie war sehr erschrocken, und sie fürchtete, dass man ihr das ansah.
»Er … hat er das so gesagt?«, fragte sie nach einer Weile mit belegter Stimme. »Dass … ich nicht zurückkommen werde?«
Dennis sah sie noch immer nicht an. »Er hat gesagt, dass du nicht glücklich mit mir bist. Und dass du gehen wirst. Er hat das in dieser Deutlichkeit gesagt.«
Sie erwiderte nichts. Schließlich wandte Dennis den Kopf.
»Kann es sein«, fragte er, »dass er recht hat?«
Sie hielt ihr Wasserglas umklammert. Wie in grelles Licht getaucht, sah sie sich selbst: das frisch gewaschene Haar, das Gesicht stärker geschminkt als sonst, das viel zu kurze Kleid. Dennis hatte eine andere Frau vor sich. Allein ihre Aufmachung beantwortete bereits seine Frage.
»Ich weiß es
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