Die Letzte Spur
ein Stück weit in kleine Parkanlagen hineingelaufen, aber nirgends war eine Spur von ihm zu entdecken. Schließlich sagte sie sich, dass sie naiv gewesen war. Wieso sollte er hier irgendwo herumlungern? Der Tag versprach sonnig zu werden, aber noch war die Luft kalt, und niemand hätte sich nach einer durchwachten Nacht auf der Straße aufgehalten.
Aber wo war er dann? Wo hatte er Unterschlupf gefunden?
Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen, dachte sie, aber sie wusste, dass sie kaum eine Chance gehabt hatte, ihn zurückzuhalten. Er war so entschlossen gewesen, entschlossen auch, es notfalls zu einem Eklat kommen zu lassen.
»Verdammt!«, sagte sie laut und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Sie hatte die Schuldgefühle so satt, die sie von allen Seiten bedrängten. Schuldgefühle, weil sie Rob nicht gehindert hatte, in den Abend hinauszulaufen. Schuldgefühle, weil sie sich offenbar die ganze Zeit über falsch ihm gegenüber verhielt. Schuldgefühle, weil sie damals nicht wie eine Mutter gefühlt und gehandelt hatte.
Zum ersten Mal, seit Rob so unerwartet bei ihr aufgekreuzt war, war sie richtig wütend.
Sie fuhr einen letzten Bogen am Siedlungsrand entlang, dort, wo die jüngsten Häuser standen, deren Gärten noch nicht angelegt waren, und wo neues Bauland begann, eine von Brombeerranken und Kiefernschösslingen überwucherte Wildnis, und dort sah sie ihn. Er kam einen der vielen schmalen Trampelpfade entlang, die von Generationen von Hasen geschaffen worden waren, und nichts erinnerte mehr an den aufsässigen, zornigen jungen Mann vom Vorabend, der seine eigenen Wege zu gehen beschlossen hatte. Er sah jetzt eher wie eine Elendsgestalt aus, frierend, hungrig, zerknittert, die Schultern nach vorn gezogen. Zweifellos hatte er eine wirklich scheußliche Nacht verbracht.
Sie bremste direkt neben ihm, neigte sich hinüber und stieß die Beifahrertür auf. »Los«, sagte sie, »steig ein!«
Er hatte ihr Auto nicht kommen gehört und schrak zusammen. Als er sie erkannte, verfinsterte sich der Blick seiner völlig erschöpften Augen, er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
»Du bist völlig durchgefroren, und ich wette, du hast noch nicht gefrühstückt«, sagte sie. »Ich an deiner Stelle würde mir eine heiße Dusche, frische Klamotten, einen Kaffee und ein paar Toastbrote nicht entgehen lassen.«
Er kam herangeschlurft, stieg mit mürrischem Gesichtsausdruck zu ihr ein.
Sie ahnte, wo er die Nacht verbracht hatte. Jenseits des Brachlands, über das er gekommen war, befanden sich etliche Schrebergartensiedlungen.
»Du bist in eine Hütte eingestiegen«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast nichts kaputt gemacht?«
Er zuckte mit den Schultern.
Sie merkte, dass die Wut noch immer in ihr brodelte.
Sie schaltete den Motor aus. »Okay, hör zu«, sagte sie. »Ich habe keine Lust, dieses Spiel weiterzuspielen. Ich habe keine Lust, jeden Tag in dein finsteres Gesicht zu blicken, mir deine Fragen anzuhören und mich ständig zu rechtfertigen. Ich habe dir alles gesagt, was zu sagen ist. Ich habe dir erklärt, weshalb ich damals auf eine bestimmte Weise gehandelt habe, ich habe dir meine Gründe genannt. Du kannst versuchen, mich zu verstehen, aber dazu kann ich dich natürlich nicht zwingen. Ich möchte mich nicht ständig wiederholen und mich wie eine Angeklagte fühlen müssen. Eine Szene wie gestern Abend möchte ich nicht mehr erleben und keine Nacht wach liegen, ohne zu wissen, wo du steckst. Ich möchte nicht noch einmal einen frühen Morgen lang alle Straßen der Umgebung nach dir absuchen und mich dabei fragen, ob dir vielleicht etwas Schlimmes zugestoßen ist. Hast du das verstanden?«
Er brummte etwas Unverständliches, schaute sie nicht an. Sie sah, dass seine Lippen blau waren vor Kälte.
»Wenn du dein Verhalten mir gegenüber nicht ändern willst«, fuhr sie fort, »dann, so leid es mir tut, kannst du keinen Tag länger bei mir bleiben. Dann solltest du mit dem nächstmöglichen Flug nach Gibraltar zu deinem Vater zurückfliegen.«
Er starrte immer noch auf die Ablage vor sich. »Ich hab ein Fenster eingeschlagen«, nuschelte er. Marina nickte. »Wusste ich es doch. Um in einer Gartenhütte zu übernachten.« »Ja.«
»Wir werden den Eigentümer ausfindig machen. Und du wirst die Scheibe bezahlen. Von deinem Taschengeld.« Er nickte.
Sie ließ den Motor wieder an. »Also, wir fahren jetzt zu mir. Und dann kannst du mir mitteilen, wie es weitergehen soll. Ob du noch ein paar
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