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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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unterwegs war. Das Auto hatte er. Saß sie im Zug? Hatte sie einen anderen Wagen gemietet? Fuhr sie vielleicht mit Nick Simon zusammen, ihrem mehr als halbseidenen Brötchengeber?
    Als Geoff in den Gemeinschaftsraum gerollt kam, wirkte er überrascht, Cedric zu sehen. Ob er auch erfreut war, ließ sich nicht feststellen. Aber er sah wirklich schlecht aus, da hatte Victor recht. Umschattete Augen. Farblose Lippen.
    »Ach, Cedric. Ich dachte, du bist schon wieder in New York?«
    »Hi, Geoff. Nein, wie du siehst … Ich wollte noch ein bisschen in England bleiben und habe gerade meinen Vater besucht.«
    »Dann hat er dich wahrscheinlich zu dem Auftritt hier vergattert, wie?«, bemerkte Geoff scharfsichtig. »Dein Vater ist echt nett, Cedric. Der Einzige, der hin und wieder nach mir sieht. Aber helfen kann er mir auch nicht.«
    Cedric erwiderte nichts. Er hasste die Verunsicherung, die Geoffrey innerhalb weniger Sekunden in ihm auszulösen vermochte. Diese Mischung aus Schuldgefühlen, Mitleid, Hilflosigkeit. Schon wünschte er, er hätte sich über Victors Bitte hinweggesetzt und befände sich bereits auf dem Rückweg nach London – pfeifend, mit offenem Wagenfenster, eine Coladose in der Hand. Stattdessen …
    »Möchtest du wieder in das Cafe, in dem wir mit Rosanna waren?«, fragte Geoff, »oder reicht dir die prickelnde Atmosphäre dieser blank geputzten Scheußlichkeit«, er machte eine Kopfbewegung, die den Raum umschrieb, »voller hilfloser Krüppel?«
    »Ich finde es okay hier«, sagte Cedric, »aber ich kann dich auch spazieren schieben, wenn du magst. Das Wetter ist sehr schön.«
    Geoff schüttelte den Kopf. »Danke. Lieb gemeint, aber nach so einem Ausflug geht's mir immer schlechter. Die gesunden Menschen, das Leben und Treiben, Gottes schöne Natur … die Rückkehr ist dann immer wie ein Schlag in den Magen.«
    Mittels einer an seinem Stuhl angebrachten Tastatur bewegte er sich an einen Tisch. Cedric folgte ihm, setzte sich ihm gegenüber. Geoffrey starrte auf die blassgraue Tischplatte. Er sah aus wie jemand, der sterben möchte, diese Erkenntnis durchzuckte Cedric plötzlich. Er hätte nicht beschreiben können, woran genau man es sah. Vielleicht war es eher die Ausstrahlung. Aber hätte er in diesem Moment den Begriff lebensmüde zu definieren gehabt, er hätte ohne zu zögern Geoffreys Namen genannt.
    Er neigte sich vor.
    »Geoffrey«, sagte er, »es war so viel besser mit dir. Du hattest den Unfall vor zwanzig Jahren. Du hattest gelernt, mit deiner Behinderung zu leben. Ich weiß, dass du ständig in Kingston St. Mary herumgekurvt bist. Du hattest sogar diesen Job als Ausfahrer von Reklamesendungen. Ich meine … du warst so viel weiter als heute. Jetzt … scheinst du nur noch zu vegetieren.«
    Geoffrey hob den Kopf. Cedric erschrak vor dem Ausdruck von Wut und Verbitterung in seinen Augen.
    »Wundert dich das?«, stieß er hervor. »Wundert es dich, dass ich nur noch vegetiere , wie du es nennst? Schau dich doch um, und dann vergleiche mal mein Leben mit deinem! Wie fängt dein Tag an, zum Beispiel? Gehst du joggen? Gehst du ins Fitnessstudio? Irgendetwas in der Art machst du wohl, sonst hättest du kaum diesen schönen, muskulösen Körper!«
    »Ich gehe joggen«, sagte Cedric und kam sich vor wie jemand, der ein peinliches Geständnis ablegt.
    »Joggen!«, höhnte Geoffrey. »Dachte ich es mir doch. Weißt du, wie mein Tag anfängt? Ich werde gewaschen, ich werde gefüttert, und dann beginnt mein heiß geliebtes Darmprogramm ! Weißt du, was das ist?«
    »Nun, ich …«
    »Alles, was ich oben in meinen Mund hineingeschoben bekomme, muss ja irgendwie aus meinem schrottreifen Körper wieder raus. Genau wie bei dir. Wie bei uns allen. Nur dass mein Darm das nicht von alleine kann. Der ist so komplett lahmgelegt wie fast alles andere bei mir. Also kommt ein Pfleger und zieht sich Gummihandschuhe an und …«
    »Geoff, bitte!«, unterbrach Cedric. Er hatte das Gefühl, dass sich Schweißperlen auf seiner Stirn zu sammeln begannen, aber er wagte nicht, sie fortzuwischen.
    Geoff lachte. »Siehst du? Du erträgst nicht mal, es zu hören! Aber ich – ich muss es aushalten. Jeden Tag. Seit zwanzig Jahren. Jeden verdammten Tag, bis der liebe Gott endlich befindet, dass ich genug gelitten habe, und mir das Licht auspustet. So lange wird diese Scheiße andauern!«
    »Geoffrey, ich kann verstehen, dass du …«
    »Nichts. Überhaupt nichts kannst du verstehen. Und noch viel weniger versteht deine Schwester.

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