Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
sein. Aber aus irgendeinem Grund war es jetzt tröstlich. Vielleicht, weil sie bereits jenseits von Gut und Böse war.
» Egal, wer von euch beiden Schluss gemacht hat und warum, sie konnte von Glück sagen, dass sie dich hatte « , sagte Kate. » Für jeden wäre es ein Glück gewesen. Ich hoffe, du weißt das. «
Kate betrachtete das Foto. Sie erwartete keine Antwort, jedenfalls nicht direkt.
» Aber du hättest mir von ihr erzählen können. Ich hätte dich nicht weniger geliebt, wenn ich gewusst hätte, dass du in sie verliebt warst. «
Das Telefon klingelte. Dad Handy stand auf dem Display. Ihr Vater rief sie an? Wenn es ihre Mutter gewesen wäre, hätte sie nicht abgenommen. Aber ihr Vater rief eigentlich nie an, erst recht nicht von seinem Handy aus, das er kaum benutzte.
» Alles in Ordnung? « , meldete sich Kate. Ihre Eltern waren gesund, doch sie waren auch nicht mehr die Jüngsten. In der Leitung war nur Knistern und Knacken zu hören. Einen Moment lang fragte sich Kate, ob ihr Vater ihre Nummer aus Versehen gewählt hatte. » Dad? Hörst du mich? «
» Ja, ja « , sagte er und räusperte sich. » Ich war nur kurz abgelenkt, tut mir leid. Ich gehe gerade am See spazieren, und ich hätte schwören können, dass ich einen Buschtyrann gesehen habe– was natürlich unmöglich ist, weil der Vogel nur in Südamerika vorkommt, aber… « Er war voller kindlicher Begeisterung. Kate hörte ihn schwer atmen, so als würde er laufen. » Ich geh noch mal zurück und sehe nach. Bin gleich wieder da. «
» Dad? « , sagte Kate, aber anscheinend hatte er das Handy gar nicht mehr am Ohr. » Dad? «
» Ja, ja, da bin ich wieder « , sagte er. Die Begeisterung war verflogen. » Ich glaube, ich fange schon an, mir Dinge einzubilden. Ich fürchte, Vogelbeobachtung ist was für junge Leute, auch wenn man das in Anbetracht des Altersdurchschnitts der Reisegruppe, mit der ich gerade auf den Galapagosinseln war, nicht meinen sollte. « Er räusperte sich. » Jedenfalls hat deine Mutter mich gebeten, mal bei dir anzurufen und mich zu erkundigen, wie es dir geht. «
» Mom hat dich gebeten, mich anzurufen? « Kate vermutete, dass ihr Vater sich das ausgedacht hatte, um eine gewisse emotionale Distanz zu wahren. » Es fällt mir schwer, das zu glauben. «
» Die Wahrheit ist manchmal schwer zu glauben « , entgegnete ihr Vater. » Aber es stimmt, sie hat mich gebeten, mich nach deinem Wohlergehen zu erkundigen. Nach eurem letzten Gespräch ging es ihr gar nicht gut. Ich habe sie nicht gefragt, was genau passiert ist, du weißt ja, ich mische mich nicht gern ein. Aber ich habe ihr versprochen, dich anzurufen. Geht es dir gut, Kate? «
» Nein « , antwortete sie und widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, was er hören wollte. Doch sie hatte auch keine Lust, ihm Einzelheiten zu erzählen, davon würde er sowieso nichts wissen wollen. » Nicht besonders. «
» Tja « , sagte er leise. » Manche Dinge werden einfach nie wieder gut. «
Es war das erste Mal, dass er es einfach dabei bewenden ließ. Sie musste sich verhört haben.
» Tja, so ist das wohl « , antwortete Kate mit zitternder Stimme.
» Weißt du, deine Mutter meint es gut mit dir « , sagte ihr Vater ein bisschen steif. Er bewegte sich auf unbekanntem, emotionalem Terrain, und das machte ihn offenbar verlegen. » Sie findet nur nicht immer die richtigen Worte… Weißt du noch, wie wir kurz nach Amelias Geburt nach New York gekommen sind? Wusstest du, dass deine Mutter auf dem ganzen Rückflug geweint hat, weil sie sich solche Sorgen um dich gemacht hat? «
» Ich glaube nicht, dass das der Grund… «
» O doch « , sagte ihr Vater. » Diesmal hat sie nicht geweint, das ist nicht ihre Art. Aber an dem Tag… « Er holte tief Luft. » Kommst du zurecht? Kann ich deiner Mutter das ausrichten? «
Ihr Vater war alles Mögliche, aber ein Lügner war er nicht. Kate war sich nicht ganz sicher, ob sie diese Geschichte mit Gretchen als gramgebeugter Mutter glauben sollte, doch nach all den Jahren spielte es auch keine große Rolle mehr.
» Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Dad « , sagte Kate mit Tränen in den Augen. Sie war plötzlich überwältigt von Trauer und Reue, die sie von irgendwoher überfielen. » Aber sag Mom, sie soll sich keine Sorgen machen. «
Die Thistle Tavern war an einem Wochentag um sechs Uhr abends wesentlich voller, als Kate erwartet hatte. Sie war noch nie in dem Laden gewesen, obwohl es eine der vielen Kneipen im Viertel war, in
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