Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
abziehen, weil es wichtigere Aufgaben für ihn gab. Aber bitte nicht jetzt. Nicht, nachdem sie diese Fotos entdeckt hatten. Lew holte tief Luft, die Hand immer noch an der Stirn.
» Wenn Sie mir die Adresse und das Passwort für dieses Meetbook geben würden. Ich werde die Fotos dann heute Abend vergleichen « , sagte er. » Es ist wahrscheinlich sowieso besser für Sie, wenn Sie sich die restlichen Fotos nicht ansehen müssen. «
» Wo gehen Sie denn hin? «
» Meine Frau hatte letzten Sommer einen Schlaganfall « , sagte Lew leise. Er schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. Als er aufblickte, hatte er Tränen in den Augen. » Wenn sie einen schlimmen Tag hat, muss ich nach Hause. Ich bin der Einzige, auf den sie noch hört. Die halbe Zeit bin ich mir nicht mal sicher, ob sie mich erkennt, aber sie hört wenigstens auf mich. Das war gerade ihre Pflegerin. Hört sich an, als hätte sie heute einen ganz besonders schlechten Tag. «
Kate blinzelte. Sie wollte eigentlich ein Mensch sein, der dem Opfer eines Schlaganfalls Vorrang vor ihren eigenen Ängsten einräumte. Aber am liebsten hätte sie sich an Lew geklammert und ihn angefleht zu bleiben, nicht von ihrer Seite zu weichen, bis alles Schlimme, was es über Amelia zu wissen gab, aufgedeckt war.
» Okay « , krächzte sie. » Ja, ich meine, selbstverständlich. Können Sie vielleicht sagen, wann Sie wiederkommen? «
» Morgen früh « , sagte Lew. Beim Verlassen des Zimmers blieb er kurz stehen und schaute Kate in die Augen. Sein Gesicht nahm einen weichen Ausdruck an, den Kate bisher noch nicht bei ihm wahrgenommen hatte. Sie konnte sich vorstellen, dass er seine erwachsenen Kinder so anschaute, bestimmt und warmherzig. Ihr war zum Weinen zumute. » Machen Sie sich nicht verrückt. Wir werden herausfinden, was mit ihr passiert ist. «
Als sie wieder allein war, widerstand Kate der Versuchung, den Birds of a Feather -Blog noch einmal zu öffnen. Es fiel ihr nicht besonders schwer. Sie hätte es nicht ertragen, sich dieses Foto von Amelia noch einmal anzusehen.
Sie wandte sich wieder den Kartons mit Amelias E-Mails zu. In erster Linie wollte sie wissen, ob es noch mehr von Woodhouse gab. Vielleicht gab es ja wirklich eine harmlose Erklärung für so eine Mail. Aber auf keinen Fall für mehr als eine.
Bis sie alle Mails durchgesehen hatte, war die Sonne bereits untergegangen. Im ganzen Wohnzimmer war es dunkel. Nur die Stehlampe neben dem Sofa warf diffuses Licht über den Couchtisch, auf dem Kate alle E-Mails von Woodhouse ausgebreitet hatte.
Insgesamt siebzehn.
Sie lagen wie eine Art scheußliche Flickendecke auf dem Tisch, und Kate betrachtete sie mit vor der Brust verschränkten Armen. Die meisten Mails waren kurz und knapp, sie enthielten nur einen oder zwei Sätze, mit denen Woodhouse Amelia bat, sich mit ihm zu treffen, über etwas nachzudenken, was sie gesagt hatte, oder sich gut zu überlegen, was sie tat. In einer Mail schien er ihr regelrecht zu drohen. Denk an deine Zukunft, Amelia. Das kann dich teuer zu stehen kommen.
Amelia hatte nur zwei Mails beantwortet, jeweils mit einem Wort: Okay und Wann.
Konnte es sein, dass Amelia ein Verhältnis mit Woodhouse gehabt hatte? Oder dass er sie sexuell belästigt hatte? Kate war dem Mann an Amelias Todestag begegnet. Sie hatten sich eine ganze Weile unterhalten, doch Kate hatte keinerlei Erinnerung mehr an das Gespräch. Er war auch zur Beerdigung gekommen, daran erinnerte sich Kate, wenngleich der Rest des Tages nur noch ein dichter Nebel war. Sie schloss die Augen und versuchte, sich Woodhouse vorzustellen. Er war ziemlich jung, oder? Sogar attraktiv? Kate meinte sich an eine modische Brille zu erinnern, an eine zottelige Künstlerfrisur. Wenn sie sich überhaupt an den richtigen Mann erinnerte. Auf jeden Fall hatte Woodhouse eine eindrucksvolle Karriere vorzuweisen– Fulbright-Stipendiat, Harvard-Studium in Politikwissenschaft und Pädagogik, das er etwa zur selben Zeit mit einem Masters-Degree abgeschlossen hatte wie Kate ihr Jurastudium. Sie wusste noch, dass sie einen Artikel über ihn in der Schulzeitung gelesen hatte, als er den Posten des Direktors angetreten hatte. Aber wer behauptete denn, dass ein Mann mit einem astreinen Lebenslauf nicht auch pädophil sein konnte?
Es klopfte an der Haustür. Erst einmal, dann dreimal sehr laut. Es klang ungeduldig, beinahe aggressiv. Kate stand auf und ging, die Arme fest um sich geschlungen, zögernd durch die Dunkelheit zur Tür. Sie schaltete kein
Weitere Kostenlose Bücher