Die letzte Zeugin
Jahren war es verfallen. Der älteste Sohn, der gerne auf Pferde wettete, verkaufte es, kaum dass er es geerbt hatte. Russ’ Großvater restaurierte und renovierte es, größtenteils mit seinen eigenen Händen, und eröffnete es im Frühjahr 1948 als Hotel. Es war zwar zu Cecil Conroys Lebzeiten kein großer Erfolg, aber es ernährte seinen Mann. Als in den Siebziger- und Achtzigerjahren die Künstlergemeinde wuchs, erschien das Hotel auf vielen Gemälden. Eins davon fiel einem reichen Sammler in New York ins Auge.
Inspiriert von dem Gemälde machte der Sammler mit seinen Freunden und Partnern das Hotel zu seinem Stützpunkt für Empfänge, Zusammenkünfte und geschäftliche oder private Events. Und so war um die Jahrtausendwende das Hotel nicht nur frisch renoviert, sondern hatte auch ein Spa und ein Hallenbad dazubekommen.
Im obersten Stockwerk befand sich jetzt die vornehmste Suite des Gebäudes, die sich unter anderem auch durch einen Vierundzwanzig-Stunden-Butler-Service hervortat. In dieser Suite mit ihren blassgoldenen Wänden, den dunklen, glänzend polierten Antiquitäten und den bunten, lokalen Kunstwerken stand Brooks mit Russ.
Die zerbrochenen Glastropfen des großen Kristalllüsters an der Decke funkelten auf dem Kastanienholzparkett. Die schwere mundgeblasene Glasvase, die offensichtlich in den Sechzig-Zoll-Flatscreen-Fernseher geschleudert worden war, lag zerbrochen auf dem handgewebten Teppich, der voller Rotweinflecken war. Drei leere Rotweinflaschen lagen daneben. Die Überreste einer Tiffany-Lampe funkelten zwischen zerbrochenen Tellern, Essensresten und Porno -DVD s. Der blaugoldene Seidenstoff, mit dem das Sofa bezogen war, wies hässliche Brandlöcher auf.
»Und du solltest erst einmal das Schlafzimmer sehen«, sagte Russ, dessen Lippe geschwollen und aufgeplatzt war. »Verdammte Arschlöcher.«
»Es tut mir so leid, Russ.«
»Die Wanne im großen Badezimmer ist voller Rotwein und Pisse. Einer von den Typen hat einfach so die Armaturen abgebrochen. Und nach der Toilette fragst du mich besser erst gar nicht.«
»Wir brauchen Fotos, von vorher und nachher. Kannst du den finanziellen Schaden in etwa abschätzen, nur damit ich einen Eindruck habe?«
»Mehr als fünfundsiebzigtausend, wahrscheinlich eher an die hunderttausend. Du lieber Himmel! Ich weiß nicht, Brooks. Es könnte sogar noch mehr sein, wenn wir erst einmal anfangen aufzuräumen. Und wie das stinkt!«
»Wie viele waren hier drin?«
»Drei. Und noch Mädchen dazu. Sie haben die Suite unter dem Namen von Justins Vater gebucht und haben mit seiner Kreditkarte eingecheckt. Justin und ein Mädchen. Das war gestern Abend. Irgendwann in der Nacht – wir können die Sicherheitsaufnahmen in der Lobby überprüfen – sind die anderen beiden Jungs – seine üblichen Kumpel, Chad Cartwright und Doyle Parsins – und zwei weitere Mädchen dazugekommen. Justin hat dem Portier gesagt, er soll sie herauflassen. Es ist nicht verboten, Gäste in der Suite zu haben. Sie sind die Nacht über geblieben. Es gab ein paar Beschwerden von anderen Gästen wegen des Lärms. Meiner Schätzung nach sind die Mädchen so gegen drei Uhr heute früh gegangen, und die drei Jungs haben den Tag damit verbracht, Gras zu rauchen, den Zimmerservice zu bestellen und Pornos zu gucken. Gegen sechs gingen erneut Beschwerden ein – Schreie, Krachen, Knallen, wildes Gelächter. Sie hatten die Tür verbarrikadiert und wollten sie für den Etagen-Manager nicht öffnen. Da bin ich selbst hochgegangen. Himmel, man konnte das Gras schon im Flur riechen!«
Brooks nickte nur und unterbrach Russ nicht. Die Hände seines Freundes zitterten immer noch vor Wut und Entsetzen.
»Ich sagte dem kleinen Scheißkerl, wenn er nicht sofort die Tür aufmachen würde, würde ich die Polizei und seinen Vater verständigen. Nichts gegen die Furcht, die du auslöst, Brooks, aber ich glaube, am meisten hat die Drohung mit seinem alten Herrn gezogen – und den Eltern der anderen. Jedenfalls haben sie mich reingelassen. Dieser kleine Schwanzlutscher grinste mich höhnisch an und sagte mir, ich solle verschwinden. Das Zimmer sei bezahlt. Ich konnte sehen, was sie hier veranstaltet hatten. Die anderen beiden lagen auf dem Boden. Ich war viel zu wütend, um es locker zu nehmen, wenn du weißt, was ich meine.«
»Ich weiß.«
»Ich sagte der Etagen-Managerin, die bei mir war, sie solle die Sicherheitsleute holen. Und da hat dieser kleine Scheißtyp mir seine Faust ins Gesicht gerammt.«
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