Die letzte Zeugin
sich nicht mehr so wehrlos fühlen. Wer kann ihr das schon verübeln? Wir können ihr den lieben langen Tag erzählen, dass sie in Sicherheit ist und wir sie beschützen, aber sie ist trotzdem machtlos. Es geht nicht um das, was wir ihr sagen, sondern um das, was sie fühlt.«
»Ich weiß, John, ich weiß. Ich verstehe ja, dass sie Angst hat, und ihr ist auch bestimmt sterbenslangweilig. Aber all das können wir nicht ändern.«
»Ihr Leben wird nie wieder so sein wie vorher, Terry, und das dürfen wir auch nicht vergessen. Sie ist nicht nur eine Zeugin, sondern vor allem ein junges Mädchen. Wenn es ihr hilft, sicher mit der Waffe umzugehen, dann werde ich dafür sorgen, dass sie es lernt. Denn sie hat es zumindest verdient, in der Nacht ruhig schlafen zu können.«
»Scheiße«, wiederholte Terry. »Okay, ich habe es kapiert. Wirklich. Aber …«
»Aber?«
»Ich denke noch nach.«
»Gut, mach das. Ich werde den Satz, der bei dir funktioniert hat, beim Boss ausprobieren. Er soll mir erlauben, mit ihr auf den Schießstand zu gehen.«
»Du kannst ja wie Aladin an der Lampe reiben. Vielleicht hilft das ja.«
John lächelte nur, zog sein Handy aus der Tasche und ging ins Zimmer nebenan.
Terry stieß die Luft aus. Nach kurzem Überlegen holte sie eine weitere Cola aus dem Kühlschrank und ging nach oben zu Elizabeth’ Zimmer. Sie klopfte.
»Herein.«
»Mit Pistolen zu spielen macht mich immer durstig.« Terry trat ans Bett, wo Elizabeth saß, und reichte ihr die Cola-Dose.
»Ich hoffe, du bist jetzt nicht wütend auf John. Es war meine Schuld.«
»Ich bin nicht wütend.« Terry setzte sich neben sie. »Ich war nur nicht darauf vorbereitet. John hat mir erzählt, dass du Alpträume hast. Du hast Angst. Ich kann dir zwar sagen, dass du keine Angst zu haben brauchst, aber in Wahrheit hätte ich an deiner Stelle natürlich auch Angst.«
»Ich konnte nichts tun. In den Alpträumen kann ich auch nichts tun, deshalb tötet er mich. Ich will lernen, auf mich selber aufzupassen. Ihr werdet nicht immer da sein. Du und John oder Bill und Lynda. Oder wer auch immer auf mich aufpassen soll. Eines Tages werdet ihr nicht da sein, und ich muss einfach wissen, dass ich auf mich alleine aufpassen kann. Meine Mutter wird mich nicht begleiten.«
»Das weißt du doch gar nicht …«
»Doch, ich weiß es.« Sie sagte es sachlich, mit leiser Stimme, überrascht, dass sie sich so ruhig und emotionslos fühlte. »Wenn ihr wieder mit mir umzieht und mir eine neue Identität gebt, wird sie nicht mitkommen. Ihr Leben, ihre Karriere sind hier. Ich werde bald siebzehn. Wenn es sein muss, kann ich beantragen, vorzeitig als volljährig anerkannt zu werden. Das bekomme ich durch. Wenn ich achtzehn werde, habe ich ein bisschen Geld aus meinem Treuhand-Fonds. Und mit einundzwanzig bekomme ich noch mehr. Ich kann studieren, und ich kann arbeiten. Ich kann jetzt ein bisschen kochen. Aber ich kann mich nicht selbst verteidigen, wenn etwas passiert.«
»Du bist klug genug, du hast bestimmt über das Programm recherchiert. Wir haben nicht einen einzigen Zeugen verloren, der unsere Sicherheitsrichtlinien befolgt hat.«
»Ich habe mein ganzes Leben lang irgendwelche Richtlinien befolgt. Daran bin ich gewöhnt.«
»Oh, Liz. Zum Teufel.«
»Das war passiv-aggressiv.« Elizabeth seufzte. »Es tut mir leid. Aber sie werden nie aufhören, nach mir zu suchen. Sie glauben an Rache und Vergeltung. Ich weiß, dass ihr alles tun werdet, damit sie mich nicht finden, aber ich muss einfach wissen, dass ich mich wehren kann, wenn das Schlimmste passiert und sie mich finden.«
»Es gibt andere Wege, um sich zu wehren, als mit einer Pistole.«
»Und doch trägst du eine bei dir.«
»Zwei.« Terry tippte an ihren Knöchel. »Eine erprobte zusätzliche Waffe. Wenn du schießen lernen willst, ist John dein Mann. Aber ich könnte dir noch andere Methoden zur Selbstverteidigung beibringen.«
Fasziniert blickte Elizabeth sie an. »Richtiges Kämpfen?«
»Ich habe eher an defensive Bewegungen gedacht, aber im Grunde ist es Kämpfen, ja.«
»Das würde ich gerne lernen. Ich bin eine gute Schülerin.«
John kam an die offene Tür. »Fünf Uhr früh. Sei fertig. Wir haben die Erlaubnis, auf dem Schießstand zu trainieren.«
»Danke. Vielen Dank.«
»Terry?«
»Fünf Uhr morgens. Du liebe Güte. Ich bin dabei.«
Dreimal in der Woche fuhr John mit ihr vor Sonnenaufgang in den Schießstand im Keller. Sie gewöhnte sich an das Gefühl, eine Pistole in der Hand
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