Die letzte Zeugin
»Hühnerscheiße«, sagte er mit halbem Lächeln. »Jetzt wird er zu Dünger zerfallen. Die Drogen, die waren sein Verhängnis. Deshalb war ich immer so streng mit dir und deinen Schwestern. Drogen sind nur Geschäft, aber für die Drogen hat er uns bestohlen, hat uns und sein eigenes Blut verraten.«
»Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich da gewesen, um ihn betteln zu sehen wie eine Frau. Um ihn sterben zu sehen.«
»Wir haben erst in der Nacht von seiner Verhaftung und dem Deal erfahren, den der Bastard mit den Bullen gemacht hat. Wir mussten schnell reagieren. Ich habe Yakov und Yegor zu seinem Haus geschickt. Sie sollten nachsehen, ob er da war. Wir sind vielleicht zu schnell vorgegangen und haben Fehler gemacht. Du hast doch in der Vergangenheit auch nicht mit Alexi rumgehurt. Er hatte immer schon einen weniger guten Geschmack als du.«
»Ich sollte in seiner Nähe bleiben«, wiederholte Ilya. »Und das Mädchen war bezaubernd. Frisch, unverdorben. Traurig. Ein bisschen traurig. Ich mochte sie.«
»Es gibt noch viele andere. Sie ist schon so gut wie tot. Und jetzt bleibst du zum Abendessen. Das wird deine Mutter freuen und mich auch.«
»Natürlich.«
6
Zwei Wochen vergingen, und eine neue Woche brach an. Elizabeth konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie das Haus hatte verlassen dürfen. Und niemals allein.
Nie war sie allein.
Sie, die sich früher nach Gesellschaft gesehnt hatte, empfand den Mangel an Einsamkeit jetzt als einengender als die vier Wände ihres Zimmers.
Sie hatte ihren Laptop. Sie hatten den Zugang zu E-Mail und Chatboards blockiert. Aus Langeweile und Neugier hackte sie sich durch die Blockaden. Sie hatte zwar nicht vor, jemanden zu kontaktieren, aber es gab ihr wenigstens das Gefühl, etwas zu leisten.
Diesen kleinen Triumph behielt sie für sich.
Sie hatte Alpträume, und auch das behielt sie für sich.
Sie brachten ihr Bücher und Musik-CDs; sie brauchte nur darum zu bitten. Eigentlich hätte es ihr ein Gefühl von Freiheit vermitteln müssen, die populären Romane und die Pop-musik zu verschlingen, die ihre Mutter so sehr missbilligte. Aber ihr wurde dadurch nur noch stärker bewusst, was sie alles verpasst hatte und wie wenig sie von der realen Welt wusste.
Ihre Mutter kam nie.
Jeden Morgen lösten John und Terry die Nachtschicht ab, und jeden Abend wurden sie von Bill und Lynda ersetzt. Manchmal kochten sie; Frühstück schien Johns Spezialität zu sein. Meistens brachten sie das Essen jedoch mit: Pizza oder Burger, Hühnchen oder Chinesisch. Aus Schuldgefühlen heraus – und zum Teil auch, um sich zu verteidigen – begann Elizabeth in der Küche zu experimentieren. Soweit sie sehen konnte, waren Rezepte auch nur Formeln, und die Küche war eine Art Labor.
Und sie stellte fest, dass es ihr gefiel. Sie mochte das Schneiden und Rühren, die Düfte, die Beschaffenheit der Lebensmittel.
»Was steht auf dem Speiseplan?«
Elizabeth saß am Tisch und blickte auf, als John hereinkam. »Ich habe gedacht, ich probiere das Wok-Hühnchen einmal aus.«
»Klingt gut.« Er schenkte sich einen Kaffee ein. »Meine Frau versucht mit diesen Wok-Gerichten die Kinder dazu zu kriegen, Gemüse zu essen.«
Sie wusste, dass er und seine Frau Maddie zwei Kinder hatten. Einen siebenjährigen Jungen, Maxfield, benannt nach dem Maler Maxfield Parrish, und Emily – nach Emily Brontë –, die fünf Jahre alt war. Er hatte ihr Bilder gezeigt, die er in der Brieftasche mit sich herumtrug, und ihr lustige, kleine Geschichten über sie erzählt.
Damit wollte er ihr Verhältnis persönlicher gestalten; das verstand sie. Es war ihm auch gelungen, aber gleichzeitig war ihr bewusst geworden, dass es über sie als Kind keine lustigen, kleinen Geschichten gab.
»Machen sie sich Sorgen um dich, weil du bei der Polizei bist?«
»Max und Em? Sie sind noch zu klein dazu. Sie wissen, dass ich böse Leute jage, aber mehr verstehen sie noch nicht. Maddie?« Er setzte sich zu ihr an den Tisch. »Ja, ein bisschen. Aber das gehört eben dazu. Und es ist schwer für sie, dass ich so oft lange von zu Hause weg bin.«
»Du hast gesagt, sie war Gerichtsreporterin.«
»Ja, bis Max auf die Welt kam. Dieser Tag im Gericht war der beste Tag meines Lebens. Aber als ich sie da sitzen sah, fiel mir kaum mein eigener Name ein. Sie ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Ich weiß gar nicht, wie ich es geschafft habe, sie zu überreden, mit mir auszugehen, geschweige denn, mich zu heiraten.«
»Du bist
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